Bildung für die Ärmsten der Armen – in Nepal
Wenn morgens die Sonne über den Himalaya klettert, spitzt Ganga mit einer Sichel Bleistifte an. In seinem Haus hat er einen Klassenraum eingerichtet, in den gerade ein Tisch, drei Bänke und ein kleines Bücherregal passen.
Kinder aus den ärmsten Familien kommen aus den umliegenden Dörfern, um in Maghthum bei Pokhara kostenlos Bildung zu erhalten. Schon bevor der Unterricht um 6.30 Uhr beginnt, strömen 20 bis 60 Mädchen und Jungen zwischen vier und zehn Jahren in das Haus, gehen Übungen aus den vorherigen Unterrichtsstunden durch oder lesen einander das Alphabet vor, das an einer bunten Wandtafel hängt. Zusammengedrängt – die älteren nehmen die jüngeren Kinder auf den Schoß – wiederholen sie das Nepali-Alphabet im Sprechchor, kritzeln englische Vokabeln in ihre Hefte oder üben das Einmaleins.
Zwei Stunden nimmt sich Ganga morgens Zeit, um den Kindern Grundlagen in Mathematik, Englisch und Nepali zu vermitteln. »Am Anfang kamen sogar Kinder, die schon auf private oder staatliche Schulen gehen. Aber die mussten wir nach Hause schicken. Wir haben zu wenig Platz, und das Angebot soll für die Ärmsten der Armen sein«, erklärt er.
Zu den Ärmsten gehören auch Sumitra, neun Jahre, und Ramesh, sieben Jahre. Ihre Eltern können sich die Schulgebühr von umgerechnet 4 Euro für eine staatliche Schule nicht leisten. Gerade für die wissbegierige Sumitra ist der »Open Classroom« eine große Chance, Bildung zu erwerben, denn oft wird nur in die Ausbildung der Jungen investiert. Sie sind die Altersvorsorge der Eltern. Die Mädchen werden mit 16 Jahren verheiratet und sind dann Eigentum der neuen Familie.
Tagsüber arbeiten Ramesh und Sumitra auf dem Feld, erledigen Hausarbeit, kümmern sich um die jüngeren Geschwister, holen Wasser, sortieren Reis und schneiden Gras. Ihr älterer Bruder Deepak, 13 Jahre, sammelt das Fahrgeld im Bus ein, der von Pokhara über die Dörfer fährt. Damit bessert er das Einkommen der Familie etwas auf.
Kinderarbeit ist nicht selten: Man sieht Kinder am Fluss Steine schlagen, in Teeshops servieren und an der Straße Snacks verkaufen. Die Analphabetenrate in Nepal ist sehr hoch, vor allem auf dem Land. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen in größere Städte, vor allem in die Hauptstadt Kathmandu.
Ganga, der zwei Söhne hat, weiß, wie wichtig Bildung ist, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen »Ich kann ihnen im ›Open classroom for disadvanteged children‹ aber nur Grundlagen vermitteln. Doch manche Eltern haben erkannt, dass ihre Kinder durch Bildung eine bessere Zukunft haben, und schicken sie zur Schule«.
Wenn Ganga die Kinder morgens unterrichtet und sich mit dem landestypischen Dal Baat – Reis mit Linsen und Gemüse – für den Tag gestärkt hat, macht er sich auf den Weg zur staatlichen Schule, in der er von 10 bis 16 Uhr arbeitet und mittlerweile Direktor ist. Eine halbe Stunde den Berg hoch, dann hat er die Schule erreicht.
In den staatlichen Schulen herrschen prekäre Verhältnisse. Es gibt kaum Förderungen von der Regierung, Lehrerinnen und Lehrer sind demotiviert. Oft sitzen sie im Schatten unter Bäumen und überlassen die Kinder sich selbst. Ihr Monatseinkommen ist gesichert – ob sie unterrichten oder nicht.
Sarah, 20 Jahre alt und eine durch das Weltwärts-Programm der deutschen Regierung unterstützte Freiwillige, kam nach Nepal, um zehn Monate lang an einer staatlichen Dorf-Schule zu unterrichten. Sie erzählt: »Ich war erschrocken über die Verhältnisse an den Schulen. Es gibt viel zu wenig Arbeitsmaterialien, die Klassenräume sind eng und dunkel. Oft ist nicht mal Kreide da, um etwas an die Tafel zu schreiben. Viele Kinder haben keine Stifte und Hefte. Ich musste lernen, mit wenig zu improvisieren. Am schlimmsten finde ich, dass die Kinder von den Lehrern geschlagen werden.« Erziehung durch den Schlagstock hat Ganga an seiner Schule verboten, an anderen staatlichen und privaten Schulen gehört so etwas jedoch zur Tagesordnung.
Eigenes Denken wird nicht gefördert. Gute Noten bekommen die Schülerinnen und Schüler, die am besten nachplappern und abschreiben können. »Leider gibt es nicht viele Lehrer in Nepal, die so fortschrittlich denken wie Ganga. Er hat mich sofort überzeugt, als er mir im November von seiner Idee des ›Open Classroom for disadvanteged Children‹ erzählte. In Deutschland haben wir Spenden gesammelt und ihm beim Einrichten des Klassenraums geholfen. Doch mit so einem Ansturm von Kindern hatten wir nicht gerechnet, als alles fertig war. Nun wollen wir einen weiteren Raum auf dem Dach ausbauen«, berichtet Sarah.
Aber es fehlt an Geld. Absurd in einem Land, in das Tausende von NGOs Geld pumpen. Leider versickert es auf dem Weg in solche Projekte, denn Korruption ist ein großes Problem in Nepal.
Immerhin läuft das Geschäft mit Freiwilligen gut. Aus vielen Industrienationen strömen sie herbei und bezahlen viel, um Gutes zu tun.
Ganga hat noch keine freiwilligen Helfer, obwohl es einen Raum für sie gibt und sie für einen Beitrag von 50 Euro im Monat von der Familie versorgt werden könnten. »Es wäre eine Entlastung und Bereicherung, jemanden zu haben, der unterrichtet. Und vielleicht könnte ich von ihm oder ihr etwas über kreative Unterrichtsmethoden lernen«, sagt Ganga und macht sich auf in den kleinen Gemüsegarten. Der Bienenstock und die Büffelkuh Egon brauchen auch seine Aufmerksamkeit.
Emilia Miguez und Sarah Liegmann
Emilia Miguez und Sarah Liegmann waren 2009 über »Weltwärts«, einem Förderprogramm der Bundesregierung ein Jahr in Nepal und engagierten sich dort in verschiedenen sozialen Projekten.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-7/11 lesen.