Jahn von Holleben, Fotograf
Seine ersten Auftraggeber waren die Nachbarskinder. Heute findet man Fotos von Jan von Holleben auf den Titeln von Magazinen wie Der Spiegel, Geo, Focus, Die Zeit oder dem Greenpeace Magazin und in der Vogue oder dem Rolling Stone. In seinem Berliner Atelier erzählt er unserer Redakteurin Jutta Gruber, warum er seine Models auf den Boden legt und gerade ziemlich viele Süßigkeiten im Angebot hat.
Im Sommer hatten Sie eine große Ausstellung mit dem Titel »SugarWow!« im Ostseebad Zingst. Wer hat sich während der Fotoarbeiten öfter den Bauch verdorben? Sie oder Ihre Models?
Vielleicht schon ich. Für die Entwicklung von »SugarWow!« brauchte ich etwa ein halbes Jahr lang viele Süßigkeiten um mich herum. Um sie zu sehen, zu fühlen, ihre betörenden Düfte zu riechen und natürlich auch, um sie zu essen. Ich gehe für jedes Projekt in einen intensiven kreativen Prozess. Nur wenn ich mit etwas spiele, kommen mir Ideen, wie Welten aussehen oder Objekte funktionieren, die aus Gummibärchen oder Lakritze bestehen.
Jedes Kind weiß, dass Süßigkeiten ungesund und verlockend zugleich sind. Wie stehen Sie dazu?
Süßigkeiten sind aus der Welt von Kindern nicht wegzudenken und zugleich ein Thema, das für sie mit einem gewissen Druck verbunden ist. Deshalb gibt es in jedem meiner Bücher eine Süßigkeitenseite. Ich möchte Kinder in ihrer Welt erreichen. Ohne Erwachsenenbrille. Deshalb ist es auch gut, dass ich Fotograf und doch nicht Lehrer wurde.
Mit Ihren Büchern zu Themen wie Trennung der Eltern, Pubertät oder Politik geben Sie Kindern und Jugendlichen Wissen an die Hand, mit dem sie sich und die Welt besser verstehen lernen. Wie gelingt das ohne Erwachsenenbrille?
Das gelingt, weil wir die Kinder als Spezialist:innen für das jeweilige Thema ansprechen. Das Trennungsbuch zum Beispiel haben wir mit Trennungskindern und meinem besten Freund, einem Kinderpsychologen, gemacht. Es sind die Kinder, die die Inhalte in Zusammenarbeit mit mir erarbeiten und – peer to peer – an ihre Altersgenoss:innen weitergeben.
Ihr Buch »Meine wilde Wut« bekam 2019 das KIMI-Siegel für Vielfalt.
Ja, und ich denke, ein Grund dafür ist, dass auch in »Meine wilde Wut« richtig viel Inhalt von den Kindern drinsteckt. Mit dem Buch zeigen wir, dass Wut eine Art Kommunikation ohne Worte ist, weil einem die Worte fehlen, mit denen man erklären könnte, was gerade falsch läuft. In »Meine wilde Wut« kann man nachschlagen und aus den insgesamt zwölf Ursachen von Wut, die wir dort vorstellen, jene herausfinden, wegen der man gerade durchgedreht ist. Und vielleicht kann man dann schon beim nächsten Wutanfall mehr dazu sagen, warum genau.
Was macht Sie wütend?
Wenn Machtfragen sinnvollem Handeln im Weg stehen. In der Politik zum Beispiel, in der Wirtschaft oder im Zwischenmenschlichen. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber für mich war schon immer wichtig, dass etwas in sich stimmt, dass etwas Sinn macht. Und auf jeden Fall gab es einiges, was ich nicht verstand. Je älter ich wurde, um so mehr hatte ich nicht nur das Bedürfnis zu verstehen, warum die Welt so komisch funktioniert und wie welche Strömungen was beeinflussen, sondern auch den Wunsch, selbst mitzumischen. Ich glaube, ich wollte herausfinden, wie das Spiel funktioniert und wie ich mich darin positionieren kann, um nicht der Spielball zu sein, sondern Mitgestalter.
Haben Sie Ihre Position inzwischen gefunden?
Ja, ich denke schon. Ich weiß inzwischen, dass mich Unsinn nicht nur in besonderem Maße stört, sondern dass ich komplexe Zusammenhänge anschaulich präsentieren kann. Das fiel schon in der Schule auf und heute mache ich genau das professionell: Ich bekomme einen Auftrag und präsentiere das gewünschte Thema, indem ich ein kleines visuelles Theater aufbaue, das alles über das Thema erzählt. Das Foto, das am Ende dabei entsteht, ist letztlich die Dokumentation der gesamten vorhergehenden Performance. Ich lote gerne Grenzen aus. Sag mir eine Regel oder ein Gesetz und ich probiere aus, wo man ein bisschen ausbrechen kann.
Daher auch der Kommentar »97 % wahr« auf dem Adventure Journal Nr. 5 »Science Sucks. It doesn’t give a fuck about what you believe«? (Wissenschaft ist Scheiße, denn es ist ihr egal, was du denkst)
Ja, wahrscheinlich. Näher als 97 % kann man der Wahrheit nicht kommen. Die Behauptung, etwas sei 100 % wahr, ist einfach unseriös. Vielleicht erreicht man die 100 % in geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Logik und Mathematik, aber sobald eine wissenschaftliche Theorie auf die Realität trifft, muss man Abstriche machen. Wissenschaft bewegt sich immer am Rande des Ungewissen. Menschen, die etwas anderes behaupten, finde ich mühsam.
Wenn Wissenschaft versucht, Unerklärliches zu verstehen und Gesetze und Regeln zu finden, die Antworten und Orientierung geben und diese aber auch stets wieder hinterfragt, ist dann nicht jedes Kind ein Wissenschaftler:in?
Ja, ich denke schon, dass man das so sagen kann. Mein vierjähriger Sohn möchte gerade ganz viele Regeln kennenlernen und auch, welche Ausnahmen erlaubt sind und welche nicht. Regelverstöße mahnt er lautstark an. Er kennt z.B. schon das Einbahnstraßenschild und weiß, dass man da auch mit dem Fahrrad nicht in der falschen Richtung reinfahren darf. Es dauerte eine Weile, bis er lernte, dass das in manchen Einbahnstraßen doch erlaubt ist und wie man das auf dem Einbahnstraßenschild erkennt. Oder er passt von unserer Wohnung aus genau auf, ob die Verkehrsregeln eingehalten werden – wenn nicht, ruft er immer: »Da ist ein Auto auf der Busspur, das darf das nicht!«
Jan von Holleben wurde 1977 geboren und wuchs auf dem Land in Süddeutschland auf. Den Großteil seiner Jugend lebte er in einer alternativen Wohngemeinschaft. Auf seine Entwicklung als Fotograf hatten seine Eltern – ein Kameramann und eine Sprachtherapeutin – einen nicht unwesentlichen Einfluss. Über die Jahre entwickelte er gemeinsam mit Familie, Freund:innen und Nachbarskindern seine eigene fotografische Welt. Jan von Holleben studierte Sozialpädagogik und machte einen Abschluss in Geschichte und Theorie der Fotografie. Seine künstlerischen Arbeiten drehen sich um den homo ludens – den spielenden Menschen, der sich und die Welt um sich herum spielerisch erkennt und weiterentwickelt. Auf www.janvonholleben.com gibt es neben vielen Fotos auch Videos (unter »about«), die ihn bei der Arbeit zeigen. Sein neues Buch Die Blaubeermaschine erscheint im Frühjahr 2023. Von seinen mittlerweile über 20 Kinder- und Kunstbüchern in 16 Sprachen empfiehlt er für Kinder im Kita-Alter und ihre Familien Alles immer von 2019 mit 370 Fotos auf 224 Seiten. Auf www.beltz.de gibt es eine Lese-, bzw. Anschauprobe der von ihm geschaffenen Erlebniswelten, die einladen, genau hinzuschauen. Viele Szenen lassen sich leicht nachstellen und fotografieren.
Kontakt
Fotos: Jan von Holleben
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2022 lesen.