Jede Kita sollte glücklich darüber sein, wenn sie Flüchtlingskinder aufnehmen kann. Denn sie verbinden mit dem Leben, wie es ist, meint Judit Costa, Kinderrechtsexpertin und Referentin bei der National Coalition Deutschland, dem Netzwerk für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Barbara Leitner führte mit ihr ein Interview für Betrifft Kinder.
Das Thema Flüchtlinge in Deutschland wird gegenwärtig heiß diskutiert. Es geht dabei darum, wo und wie sie untergebracht werden können, wer die Kosten übernimmt. Wie viel Aufmerksamkeit bekommen in dieser Debatte Kinder, die gezwungen sind, mit ihren Eltern ihre Heimat zu verlassen?
Sehr wenig. Dabei kommen über ein Drittel aller Asylerstanträge von Kindern. Davon wiederum sind fast die Hälfte Kinder bis zu fünf Jahren, also Kinder im Kindergartenalter. Die überwiegende Mehrheit der Kinder kommt mit ihren Eltern nach Deutschland, über sie wird im Gegensatz zu den unbegleiteten Flüchtlingen wenig gesprochen. Man rechnet, dass etwa drei Prozent der Kinder ohne ihre Sorgeberechtigten fliehen, meist Kinder über zehn Jahre. Für diese unbegleiteten Flüchtlinge sind die Jugendämter zuständig. Ihre Verletzbarkeit ist sichtbarer.
Sie brauchen einen Vormund und werden rechtlich im Kinder- und Jugendhilfesystem nach dem Sozialgesetzbuch VIII betreut. Dafür gibt es eine Struktur, die in jedem Bundesland etwas anders funktioniert, mal besser, mal schlechter. In einigen Bundesländern bekommen sie Einzelvormünder, in anderen Amtsvormünder. Auch die Unterbringung ist unterschiedlich. Durch die Integration in das Kinder- und Jugendhilfesystem sind diese Kinder, was zum Beispiel die gesundheitliche Betreuung anbelangt, besser gestellt als jene Kinder, die mit ihren Eltern zusammen nach Deutschland kommen. Diese werden nach dem Asylbewerberleistungsgesetz versorgt. Das heißt, sie erhalten nur akute Schmerzbehandlungen, aber keine Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen, bekommen keine Brille oder Zahnspangen, wenn das nötig ist.
Wie viele Kinder kommen als Flüchtlinge zu uns? Es scheint so, als haben sich die Zahlen sehr verändert.
Während es 2010 insgesamt in Deutschland ungefähr 40.000 Asylsuchende gab, waren es 2012 schon 65.000. Kamen 2010 nur 13.500 Asylerstanträge von Kinder mit Eltern und von solchen ohne Eltern 1.900, waren es zwei Jahre später schon 22.300 von Kindern mit Eltern und 2.100 von unbegleiteten Kindern. 2013 und 2014 ist die steigende Tendenz noch stärker erkennbar. Durch den Krieg in Syrien in den zurückliegenden zwei, drei Jahren gibt es einen massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen – überall in Europa und vor allem in den Nachbarländern Syriens. Wenn wir zurückschauen, können wir uns auch daran erinnern, dass Anfang der 1990er Jahren viele Flüchtlinge während des Jugoslawien-Krieges zu uns kamen. Und wenn wir noch weiter zurückblicken, stellen wir fest, dass unsere ganze europäische Geschichte von Migration geprägt ist. Dieses Flüchtlingsphänomen ist nicht plötzlich 2013 aufgetaucht. Es ist nur all die Jahre weggedrückt worden. Wir haben uns nicht darauf eingestellt, dass Flüchtlinge Deutschland nicht nur als Transitland nutzen, sondern hier bleiben wollen.
Wie ist das, wenn ein Kind mit seinen Eltern aus Syrien oder Tschetschenien nach Deutschland kommt?
Zunächst ist jeder Umzug für ein Kind eine große Verunsicherung. Alles ist neu. Zudem merken die Kinder die Verunsicherung ihrer Eltern oder der älteren Geschwister. Wenn Menschen vor den Asylbewerberheimen protestieren, können die Kinder und häufig auch die Erwachsenen nicht erkennen: Wer sind die Unterstützer und wer die Gegner? Sie merken nur, das sind unglaublich viele Leute, die sich aufregen. Es gibt eine große Aufmerksamkeit für sie, aber nicht in einem positiven Sinn. Das ist ist nicht die Willkommenskultur, die die Politik proklamiert.
Wenn ich mir vorstelle, ich müsste als Kind mit meinen Eltern aus einem Land fliehen, bin zwei, vier, oder acht Jahre alt, lebe erst für drei Monate in einem Auffanglager, dann in einem Asylbewerberheim. Wenn meine Eltern Glück haben, finden sie bald eine Wohnung. Wie ist das?
Ich bin Mutter von zwei Kindern. Wie ich sie wahrnehme, ist für sie nicht entscheidend, wie man wo wohnt, wie es da aussieht. Wichtiger sind die persönlichen Beziehungen. Die müssen Flüchtlingskinder immer wieder lösen. Gerade haben sie jemanden kennengelernt, vielleicht Freundschaften geschlossen. Dann müssen sie in ein anderes Heim ziehen oder werden sogar abgeschoben. Auch sind für Kinder Gewohnheiten wichtig, das können das Lieblingsessen sein oder Feste, die der Familie wichtig waren. Ob eine Familie zur Ruhe kommt, hängt oft davon ab, ob es den Kinder möglich ist, die liebgewonnenen Gewohnheiten beizubehalten.
Alle Menschen emigrieren mit Hoffnung. Das ist der Antrieb, wegzugehen: Das eigene Leben in die Hand nehmen und irgendwo anders etwas Neues aufzubauen. Diese Hoffnung wird aber bedroht. Man hört von Flüchtlingen immer wieder: Ich will gern arbeiten, darf aber nicht. Das ist auch für die Kinder problematisch. Sie nehmen den Druck wahr, dem ihre Eltern ausgesetzt sind, spüren, dass sie nach geglückter Flucht oft eher gelähmt und nicht mehr aktiv sind.
Auch in Familien, die schon lange in Deutschland leben, sind Eltern nicht immer voller Ruhe und Gelassenheit...
Menschen, die geflohen sind, tragen oft eine dramatische Last. Was ist ihnen auf der Flucht widerfahren? Wie kommen sie mit der Fremde klar? Sie sprechen nicht Deutsch. Sie verstehen die Bürokratie nicht, der sie ausgesetzt sind. Das spüren auch die Kinder. Es gibt eine für mich überraschende Feststellung aus der letzten World Vision Studie. Darin wurden Kinder gefragt, wie viel Zeit ihre Eltern mit ihnen verbringen, was sie belastet, was ihre Wünsche sind. Dabei kam klar zum Ausdruck, dass es Kinder mehr belastet, wenn ihre Eltern arbeitslos sind und die finanzielle Basis der Familie nicht gesichert ist, als wenn die Eltern weniger Zeit mit ihnen verbringen. Die Not der Eltern überträgt sich auf die Kinder. Und eine legale Arbeit zu finden, ist für die Flüchtlinge, die hier ankommen, eines der wichtigsten Themen überhaupt.
Mein fünfjähriger Enkel erzählte mir von einem Mädchen aus seiner Kita, so alt wie er, die immer nur weint und eine Sprache spricht, die niemand kann. Ihn beunruhigt offensichtlich die Situation dieses Mädchens, einem Flüchtlingskind aus Tschetschenien.
Ich bin in Ostberlin aufgewachsen. Meine Mutter ist Ungarin. In den ersten Lebensjahren habe ich nur Ungarisch gesprochen. Als ich in eine deutsche Kita kam, war meine Mutter besorgt, wie ich dort aufgenommen werden würde. Die Erzieherin sagten zu ihr: ›Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden sie schon klein kriegen.‹ Diese Haltung lebt oft weiter in Einrichtungen, nicht nur im Osten. ›Wir werden die Person schon in unser Körbchen kriegen, wenn wir hier und da ein bisschen drücken. Wir schaffen es schon, dass sie unsere Norm annimmt.‹ Es fehlt Offenheit, Vielfalt zu akzeptieren, sie wertzuschätzen und spannend zu finden. Darüber zu sprechen: Was isst das Kind gern, welche Spiele kennt es? Was hat es früher gespielt? Einfach aus dem Leben, das das Kind bis dahin hatte, zu schöpfen und eine Brücke zu bauen. Viel zu oft wird einfach ein Schnitt gemacht: Jetzt bist Du hier. Jetzt gelten unsere Regeln.
Dabei schauen doch Erzieherinnen und Erzieher sehr wohlwollend und freundlich auf das Kind!
Das bringt ihr Beruf mit sich, freundlich auf die Kinder zu schauen. Trotzdem ist das, so mein Eindruck, nicht reflektiert. Was gehört zu einer Anerkennungskultur? Bleiben wir beim Beispiel der Sprache. Zu sagen, dass mit dem Deutschlernen bekommen wir hin, ist gut gemeint. Davon aber einen Schritt zurückzugehen und zu sagen: ›Das Kind spricht schon eine Sprache. Sogar zwei!‹, weil es Persisch und Arabisch kann! Zunächst sollte die riesige Leistung anerkannt werden, die das Kind bereits erbracht hat! Und nicht zuerst das zu sehen, was noch fehlt. Da ist ein Wandel im Bewusstsein nötig.
In einer Studie heißt es, fast die Hälfte der geflohenen Kinder leidet unter traumatischen Belastungsstörungen. Das ist nichts, worum sich Erzieherinnen und Erzieher nebenbei kümmern können. Ich vermute, dass mit dem Wissen um die Traumata auch eine Hilflosigkeit oder Unsicherheit verbunden ist: Ehe ich etwas anrühre, was ich nicht auffangen kann, vermeide ich besser das Thema.
Sicher reagieren Erzieherinnen und Erzieher sehr unterschiedlich, je nachdem, welches pädagogische Konzept sie vertreten. Ich bin mir nicht sicher, ob bereits ein Bewusstsein zur Wertschätzung dieses Kinder existiert. Ich habe das bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen erlebt. Erst seit 2006 ist klar geregelt, dass diese Mädchen und Jungen im Kinder- und Jugendhilfesysteme betreut werden müssen. Das änderte die Haltung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Vorher hatten sie mit schwer erziehbaren deutschen Jugendlichen zu tun, jetzt auf einmal mit Jungs aus Afghanistan oder aus Somalia. Sie waren überfordert. Plötzlich standen Probleme an wie: ›Wir müssen darauf achten, dass es kein Schweinefleisch zu essen gibt.‹, ›Der Ausflug kann nicht stattfinden, weil Ramadan ist.‹ oder ›Der Junge aus dem Fußballverein darf nicht zum Auswärtsspiel, weil er der Residenzpflicht unterliegt. Wie machen wir das?‹ Das waren neue Dinge, die das Leben nicht nur schwieriger machen, sondern oft auch reicher. In diesem Sinne umzudenken, brauchen die Erzieherinnen und Erzieher Zeit.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/15 lesen.