Diversität und Inklusion in Schweden
Wenn wir Demokratie richtig verstehen, müssen wir die Vielfalt wollen – ohne die Menschen zu bewerten oder zu kategorisieren. Jedes Kind hat die gleichen Rechte einschließlich des Rechtes auf seine eigene Sicht und seinen eigenen Weg. Es hat nicht nur eine Stimme als Bürger, sondern es darf seine eigene individuelle Stimme haben.
Immer mehr Kinder werden als Kinder mit Problemen angesehen. Leben wir in einer Dekade des Problemkindes? Verlagern wir das Problem in das Kind? Das Kind wird immer mehr Fachdiensten vorgestellt und beurteilt. Als Fachkräfte wissen wir, wie schwierig es ist, ein Kind zu beurteilen, weil das Kind das Gefühl bekommen kann: Ich bin nicht gut genug! Kinder sind manchmal seit ihrem ersten Lebensjahr in einer Einrichtung und manchmal haben sie mit fünf Jahren ihre Neugierde am Lernen verloren, wenn sie als »nicht gut genug« eingestuft werden. Dadurch erhöht sich der Bedarf an Beurteilung und ein Teufelskreis beginnt.
Das Einordnen von Kindern in Kategorien untergräbt die Vorstellung von Diversität und die Vorstellung, den Kindern Gehör zu schenken. Denn das Erfassen in vorgefertigten Kategorien ist nichts Neutrales1. Wenn wir sagen: »Das ist typisch für dieses Kind oder für diese Familie«, beeinflussen wir die Kinder. Doch das ist kontraproduktiv. Weil wir nicht kontraproduktiv sein wollen, brauchen wir neue theoretische und philosophische Perspektiven.
Realistische pädagogische Fachkräfte betrachten deswegen Kinder und sich selbst als Mitgestalter von Kultur und Wissen2. Bildung ist ein aktiver Prozess. Er sollte die Möglichkeiten des Menschen steigern. Allen die gleichen Rechte zu gewähren bedeutet, allen die Möglichkeit, die Einsicht und den Mut zu geben, selbstständig zu denken. Nur so werden alle gerecht behandelt.
Frühkindliche Bildung – die Wiege von Inklusion und Demokratie?
Demokratie ist ein zentraler Aspekt im skandinavischen Konzept der Kindheit. Es wird erwartet, dass Kindertageseinrichtungen und Schulen Demokratie vorleben und Kinder aktive Teilnehmer dieser demokratischen Umgebungen sind: Demokratie bildet die Grundlage der Kindertageseinrichtung (in Schweden: forskolen). Aus diesem Grund sollten alle Aktivitäten der Kindertageseinrichtung auf den grundlegenden demokratischen Werten aufbauen.
In diesem Sinne wird die Kindertageseinrichtung als öffentliches Forum der zivilen Gesellschaft gesehen, als ein Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen den Bürgern, in dem Neues entstehen kann. Damit dies möglich ist, bedarf es viel Unterstützung und einer reichhaltigen Umgebung, in der Demokratie erfolgreich sein kann.
Demokratisches Handeln in der frühkindlichen Bildung ist deshalb so wichtig, weil es ein wichtiges Merkmal und Recht der Bürger ist. Durch demokratisches Handeln können Kinder und Erwachsene an Entscheidungen, die sie selbst betreffen, gemeinsam teilnehmen. Dieses Recht auf Partizipation ist in Artikel 12 der UN-Konvention für Kinderrechte verankert: »Kinder wählen aus und kommunizieren ihre Gefühle, Vorstellungen und Wünsche in vielfacher Weise, lange bevor sie mit den Konventionen der gesprochenen und geschriebenen Sprache kommunizieren können.«
Der Aufbau einer alltäglichen Demokratie hängt von der Anwendung ihrer Prinzipien in Alltagsinstitutionen ab, in de-nen Menschen Entscheidungen treffen und ihre Identitäten entwickeln – also auch in den Bildungseinrichtungen. Kindertagesstätten und Schulen sind institutionalisierte Formen der Demokratie und des Zusammenlebens. In ihnen muss die Chance zum Teilen und Austauschen von Sichtweisen und Meinungen am größten sein.
Ein Paradoxon?
Auf der einen Seite sprechen wir viel über Diversität, Vielfalt, Autonomie, Vertrauen und Partizipation, auf der anderen Seite setzen wir dem Standards, Tests, Kontrolle und Miss-trauen gegenüber. Wie können wir die unendliche Diversi-tät, Komplexität und Ambiguität des Lebens als Chance in unseren Kindertageseinrichtungen und Schulen begreifen? Als Hindernis, das überwunden werden muss – ein Hindernis, das in Gleichförmigkeit und Normalität gepresst werden muss? Wir müssen das Staunen in die Pädagogik bringen. Wir sagen, dass Kinder neugierig sind, aber nehmen wir diesen Aspekt wirklich ernst?
In Bezug auf Staunen müssen wir das Gewohnte unbekannt machen, uns öffnen für das Unbekannte und Unerwartete. Ich kenne zum Beispiel eine Kindertageseinrichtung, in die Kinder aus 20 bis 30 verschiedenen Kulturen gehen, wo die Eltern nicht »Eltern« genannt werden, sondern »Familien«. Denn es sind nicht notwendigerweise die Eltern, die die Kinder bringen und abholen und mit der Kita in Kontakt stehen, sondern oft auch andere Familienmitglieder oder andere Menschen, die für die Kinder sorgen. Das ist einer von vielen Aspekten, die wichtig sind in unserer globalisierten, sich wandelnden Welt.
Qualitätssicherung und Bewertungsdenken stützen sich in hohem Maße auf Vorstellungen von Defizit und Mangel. Qualitätssicherung ist eine Zweckrationalität, wenn man sie auf das Konzept der Bildung bezieht. Wir prüfen Ziele und dann prüfen wir den Output, die Ergebnisse. Aus unserer Sicht muss man die Prozesse kennen, wenn man in der Pädagogik etwas verändern möchte. Pädagogische Dokumentation ist ein fantastisches Werkzeug. Man kann die Lernstrategien der Kinder erkennen und man kann daran ebenso erkennen, ob man als Pädagoge ein guter Zuhörer ist.
Um Wandel geschehen zu lassen, müssen wir die starke Betonung auf »das Selbst«, das Kind als Stelle der Veränderung, verlagern. Wir sprechen immer über das Kind und kaum über den Angebotscharakter in der Umgebung. Welche Art von Einrichtung haben wir für das Lernen der Kinder konstruiert?
Wie können wir für Wandel sorgen?
Loris Malaguzzi3, Begründer der Reggio-Pädagogik, sagt, dass alle Kinder intelligent und kompetent sind, wenn die Erwachsenen mit den Kindern zusammen anregende und herausfordernde Umgebungen gestalten. Einer der wichtigsten Aspekte bezieht sich auf das Zuhören. Wir brauchen eine Pädagogik des Willkommenheißens und Zuhörens. In dieser neuen Situation ruft das Zuhören nach einer Bereitschaft zu experimentieren und kreative Prozesse und Erzeugnisse zu erkunden, weil wir sehen können, dass Kinder diese Schöpfer sind. Oftmals kontrollieren und bändigen wir dieses Potential in unseren Einrichtungen, stattdessen sollten wir experimentieren mit den Potentialen, die Kindern und Kindertageseinrichtungen schon innewohnen.
Die Fachkräfte haben die Aufgabe, auszuwählen, zu experimentieren, zu diskutieren, zu reflektieren und zu verändern, sich auf die Organisation von Möglichkeiten zu konzentrieren – und sie sollten bei ihrer Arbeit Freude am Staunen und Sich-Wundern behalten.
Das Kind wird in den demokratischen Bildungseinrichtungen als kompetenter Bürger, als Experte für sein eigenes Leben wahrgenommen. Es hat Meinungen, die es wert sind, gehört zu werden und das Recht und die Kompetenz, am gemeinsamen Treffen von Entscheidungen teilzunehmen. In den Worten Malaguzzis haben Kinder 100 Sprachen, in denen sie sich ausdrücken. Demokratische Praxis heißt, in der Lage zu sein, diesen vielen Sprachen zuzuhören. Der Ausdruck »100 Sprachen« steht für die schier endlose Anzahl an Potenzialen, die Kinder haben, ihre Fähigkeit neugierig zu sein und Nachforschungen anzustellen. Sie erinnern uns auch daran, dass es viele Möglichkeiten des Sehens und des Seins gibt.
Eltern werden in den demokratischen Einrichtungen als kompetente Bürger gesehen, weil sie ihre eigenen Erfahrungen mitbringen und Vorstellungen entwickeln, die die Früchte ihrer Erfahrungen als Eltern und Bürger sind.
Die Fachkräfte werden als Praktiker der Demokratie verstanden. Auch wenn sie eine wichtige Perspektive und ein maßgebendes lokales Wissen in das demokratische Forum einbringen, verfügen sie weder über die alleinige Wahrheit noch haben sie privilegierten Zugang zu Wissen. Professionen gründen in einer gelebten Demokratie darauf, die Teilhabe aller zu ermöglichken. Für Fachkräfte steht das gemeinschaftliche, zusammenwirkende Handeln zwischen professionellen Kollegen und anderen Interessenvertretern der lokalen Gemeinschaft im Vordergrund.
Gemeinsame Werte
Demokratisches Handeln benötigt gewisse Werte, die in der Gemeinschaft geteilt werden, z.B.:
- Respekt der Vielfalt: Die Ethik eines Andersseins5 bemüht sich, statt zu Erfassen (z.B. durch Tests) das absolute Andersseins des anderen zu respektieren und seine Andersartigkeit oder Einzigartigkeit wertzuschätzen.
- Viele parallele Perspektiven und Bezugssysteme anzuerkennen und willkommen zu heißen, zu respektieren, dass es auf die meisten Fragen mehr als eine Antwort gibt und dass es viele Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen und zu verstehen.
- Neugierde, Ungewissheit und Subjektivität willkommen zu heißen und sich der Verantwortung zu stellen, dass dies ein kritisches Denken gegenüber dem Zeitgeist von uns erfordert.
Ebenso wie ein gemeinsames Verständnis und gemeinsame Werte erfordert demokratisches Handeln in den Kindertageseinrichtungen gewisse materielle Bedingungen und Werkzeuge. Von besonderer Wichtigkeit ist die pädagogische Dokumentation, durch die Praxis und Lernprozesse sichtbar gemacht werden. Sie erfordert kritisches Denken, Dialog, Reflexion, Interpretation und, wenn nötig, demokratische Evaluation und Entscheidungsfindung. Die Schlüsselmerkmale der pädagogischen Dokumentation sind Sichtbarkeit, mehrere Perspektiven und die Ko-Konstruktion von Bedeutungen6.
Die pädagogische Dokumentation spielt eine zentrale Rolle in vielen Facetten der Kindertageseinrichtungen. Dokumentation kann sicherstellen, dass Wissen bzw. Erkenntnis als gemeinsames Gut geteilt wird. Sie kann der Planung der pädagogischen Arbeit dienen oder bei der professionellen Entwicklung oder bei Untersuchungen durch Kinder und Erwachsene nützlich sein. Pädagogische Dokumentation in diesem Sinne ist nicht gleichzusetzen mit Kindbeobachtung, sie ist weder ein Mittel, um ein wahres Bild von dem zu bekommen, was ein Kind kann, noch ist sie eine Normierungsmethode oder eine Methode zur Bewertung der Zugehörigkeit zu Entwicklungsnormen. Die Dokumentation in unserem Sinne et al.7 unterstellt keine objektive, außenliegende Wahrheit über das Kind, die aufgenommen und treffsicher dargestellt werden kann. Sie kann niemals neutral sein. So verstanden wird die pädagogische Dokumentation zu einem Mittel zur Erkundung und Infragestellung verschiedener Perspektiven und ebenso ein Mittel zur Stärkung des demokratischen Handelns.
Christa Kieferle
Dieser von Christa Kieferle verfasste Artikel ist eine Nachzeichnung verschiedener Vorträge Dahlbergs: TRAM-Abschlussveranstaltung am 29. Juni 2012 München, IFP-Fachkongress am 26. Juni 2013 München, Fachtagung Hessen und Schweden im Dialog am 24. Nov. 2014 Fulda
Literatur
Dahlberg, G. & Lenz Taguchi, H. (1994). Forskola och skolaom tvci skilda traditioner och om visionen om en motesplats (Preschool and school two different traditions and a vision of an encounter). Stockholm: HLS Forlag.
Dahlberg, G. & Moss, P. (2005). Ethics and Politics in Early Childhood Education and Care: Languages of Evaluation (2nd edition). London: Routledge.
Dahlberg, G., Moss, P. & Pence, A. (1999). Beyond Quality on Early Childhood Education and Care: Postmodern Perspectives. London: Falmer Press.
Liedman, S.-E. (1997). I skuggan av framtiden (In the shadow of the future), Stockholm: Bonnier Alba.
Oberhuemer, P. (2005). Conceptualising the early childhood pedagogue: policy approaches and issues of professionalism. In: European Early Childhood Education Research Journal, 13 (1), S. 5-16.
1 Liedman, S.-E. (1997). I skuggan av framtiden (In the shadow of the future), Stockholm: Bonnier Alba.
2 Dahlberg, G. & Lenz Taguchi, H. (1994). Forskola och skolaom tvci skilda traditioner och om visionen om en motesplats (Preschool and school two different traditions and a vision of an encounter). Stockholm: HLS Forlag.
3 Malaguzzi, L. (1993). History, ideas and basic philosophy. In: Edwards, C., Gandini, L. & Forman, G. (Hg.) The Hundred Languages of Children. Norwood, NJ: Ablex.
4 Oberhuemer, P. (2005). Conceptualising the early childhood pedagogue: policy approaches and issues of professionalism. In: European Early Childhood Education Research Journal, 13 (1), S. 5-16.
5 Dahlberg, G. & Moss, P. (2005). Ethics and Politics in Early Childhood Education and Care: Languages of Evaluation (2nd edition). London: Routledge.
6 Dahlberg, G., Moss, P. & Pence, A. (1999). Beyond Quality on Early Childhood Education and Care: Postmodern Perspectives. London: Falmer Press.
7 Ebenda.