Selbstbestimmung von Kindern und ihr pädagogischer Sinn
»Die können doch nicht machen, was sie wollen…« Das ist die häufigste Reaktion von Erwachsenen, wenn Kindern Autonomie zugestanden werden soll. Was unter anderem daran liegt, dass weder Inhalte noch Ziele klar sind. Ein Beitrag von Gerlinde Lill und Roger Prott.
Wie die Redakteurinnen dieses »KINDER in Europa« verwenden wir den Begriff Autonomie als die Fähigkeit, selbstständig zu handeln und dafür Verantwortung zu übernehmen. Wir sehen darin die Kompetenz zu Selbstbestimmung bei gegebener Entscheidungsfreiheit. Eigentlich könnten mit diesen Erläuterungen grundlegende und allgemeingültige pädagogische Ziele zusammengefasst werden, doch in der Bundesrepublik Deutschland sind zurzeit andere Ziele en vogue: Individualität und Partizipation.
Nun hängen die erstgenannten Begriffe ja durchaus mit den letzteren zusammen und man fragt sich, warum die einen betont werden, die anderen nicht (mehr). Richtig merkwürdig ist, dass Individualität und Partizipation als Gegensätze gebraucht werden, obwohl sie es doch nicht sind. Man kann doch nur als Individuum partizipieren, sich nur selbst beteiligen.
Mit dieser Unklarheit kommt ein Streitpunkt in die pädagogische Welt, denn Individualität und Partizipation stehen für »Eigensinn und Gemeinsinn im Idealmaß«. Während die einen über diese Maße streiten, setzt bei Anderen das bloße Erwähnen von Eigensinn bei Kindern in Deutschland noch immer erzieherische Reflexe frei. Sie warnen vor zuviel Eigensinn, rufen nach Grenzen oder setzen dieses Ziel sofort aus.
Quer durch die Bevölkerungsgruppen kann man sich einigen:
- »Kinder können doch nicht immer machen, was sie wollen!«
- »Spätestens in der Schule müssen sie doch auch…«
- »Kinder wissen noch nicht, was für sie gut ist.«
Manchmal enttarnt sich dabei eine schwarze Pädagogik. Dann geht es um Gehorsam, den Kinder lernen müssen. Manchmal tritt Angst der Erwachsenen vor den »kleinen Tyrannen« hervor.
Mit anderen Worten: Geht es um Macht über Menschen – oder ist es nur die Sorge der Erwachsenen für junge Menschen? In jedem Fall geht es darum, wie und wieviel Verantwortung ein Kind für sich selbst ausüben darf, das heißt, wie viel Entscheidungsfreiheit es hat, für welches eigene Handeln das Kind Verantwortung übernehmen darf.
Wissen und Wollen
Ein Gegensatz zwischen dem Eigensinn von Kindern, der gebändigt werden muss, und dem Gemeinsinn, der durch Erziehung entwickelt werden muss, ist in vielerlei Hinsicht falsch. Er führt uns zu falschen Zielen. Er verkennt die natürlichen Kompetenzen von Kindern und ihre spezielle Art zu lernen. Ganz zu schweigen von den Voraussetzungen, die das »Lernen« von Verantwortung erfordert.
Die Bändigung des Eigensinns von Kindern aus Furcht, sie könnten sich zu Egoisten entwickeln oder zu Eigenbrötlern, begrenzt ihre Autonomie, ihre Individualität und Kreativität. Wider besseres Wissen versuchen viele Erwachsene Kinder nach ihren Vorstellungen zu »backen«.
Aus der Verhaltensforschung, der Frühpädagogik, der Neurobiologie und anderen Disziplinen wissen wir, dass die Entwicklung des Kindes einerseits einem inneren Programm folgt und andererseits durch Erfahrungen mit seinem jeweiligen Umfeld geprägt wird. Bekannt ist, dass bereits junge Kinder eigensinnige Interessen haben: beim Essen, beim Schlafen und auch bei der Auswahl der Bindungspersonen. Alle Kinder entscheiden früh über ihre vitalen und sozialen Interessen. Die Initiative geht von den Babys aus. Das ist ein eindeutiges Signal für Gemeinsinn. Von Beginn an entscheiden sie autonom, doch immer »mit Blick« auf die Menschen ringsum und niemals allein.
Die entscheidende Kompetenz für das Zusammenleben in der Gesellschaft ist, Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft zu übernehmen. Das lernt man genauso wie Fahrradfahren: im Ausprobieren. Verantwortung und Demokratie können nicht »gelehrt«, nur praktiziert werden. Die Balance zwischen eigenen Interessen und Respekt vor den Grenzen anderer braucht Übung, Erfahrung und … Entscheidung.
Autonomie und Verantwortung der Erwachsenen
Zuerst steht die Entscheidung der Erwachsenen. Sie sind für die Kinder und deren Entscheidungsräume verantwortlich; das kann und will niemand ändern. Die Chance auf alltägliche Selbstbestimmung und Beteiligung von Kindern entscheidet sich entlang der Überzeugungen und Handlungen der jeweils verantwortlichen Erwachsenen. So geht es darum, dass diese für sich klären, was sie warum für richtig halten. Dafür dann einzutreten, ist ein Beispiel für Autonomie von Erwachsenen/Pädagogen.
Im Alltag von Krippe und Kindergarten
Moderne Gesellschaften drücken ihr kollektives pädagogisches Ideal in Gesetzen und Bildungsplänen aus. Ganz oben stehen bei uns Individualität und Partizipation. Das Individuum soll selbstständig sein, muss aber Verantwortung gegenüber anderen übernehmen, muss sich für Demokratie einsetzen, soll partizipieren. Bereits in Krippen sollen parlamentarische Formen der Demokratie (Wahlen, Kinderparlament, Kitaverfassung etc.) die Rechte der Kinder sichern. Sie sollen ihre Interessen untereinander und mit den Pädagoginnen aushandeln. Kinder sollen sich dabei als selbstwirksam erleben – und daraus die Erfahrung schöpfen, dass es sich lohnt, für etwas einzutreten, was einem selbst wichtig ist.
Wahrgenommen werden und wahrnehmen
Wie steht es um die Entscheidungsfreiheit von Kindern in Krippe und Kindergarten? Von Geburt an setzt jedes Kind seine Mittel ein, um Gefühle zu äußern und Bedürfnisse anzumelden. Es zeigt damit, was in seinem persönlichen Bildungsprogramm gerade aktuell ist. Erzieherinnen müssen dies wahrnehmen und bereit sein, die Signale des Kindes wichtiger zu nehmen als ihr eigenes pädagogisches Programm. Die Maxime ist: Was Kinder brauchen, zeigen sie uns. Immer, in jedem Alter und unter allen Voraussetzungen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa 28/15 lesen.