Ein Hamburger Experiment
In der Kita »Antje« – die fünfzehnte Einrichtung des Hamburger Kindergärten Finkenau e.V. und vor gut einem Jahr eröffnet – gibt es keine Möbel. Jedenfalls keine im herkömmlichen Sinne. In einem riesigen Raum, dessen Außenwände von der Decke bis zum Boden verglast sind, stehen Tools. Werkzeuge also. Da wäre das Kuschel-Tool, das Atelier-Tool... Große Kästen auf Rollen, die die Kinder bewegen, besteigen und bewohnen können. Zieht die Kita eines Tages in einen anderen Hamburger Stadtteil, fährt ein Tieflader vor, die Tools werden auf- und anderswo wieder abgeladen. Praktisch.
Aber der Reihe nach... Erika Berthold berichtet.
Schon von weitem sehe ich den Sendeturm des NDR. Kurz vor dem Gelände des Senders biege ich in den Hugh-Greene-Weg ab und lande vor einem Bürotrakt, der aussieht wie alle anderen in der Straße, aber an dessen Ende mir ein farbiges Schild auffällt: Kita Antje.
»Gibt es hier denn gar keine Wände?« frage ich erstaunt, als ich den riesigen Raum im Erdgeschoss des Bürohauses wenige Tage nach »Antjes« Eröffnung im November 2005 betrete. »Antje« heißt die Kita übrigens nach dem Walross, das im Hamburger Zoo lebte und zum Maskottchen des NDR wurde. Als Antje das Zeitliche segnete, kam Janosch und zeichnete dem NDR ein Walross-Mädchen, eine unsterbliche Antje. Diese Antje spielt in Kindercomics des Senders mit, ist schlau, mutig, kann gut organisieren und gibt unter ihren Freunden – der Bär, der Tiger und Herr Schlüter, der Fisch – den Ton an.
Kein schlechter Name für eine Kita. Erst recht nicht für eine, die gleich neben dem NDR liegt. Jeder, der hier vorbeikommt, kann reinschauen wie in ein Aquarium.
»Ja, es gibt keine Wände« sagt Konrad Mette. »Räume entstehen durch die Tools.«
Mobile Möbel für offenes Arbeiten
Die Tool-Idee hat eine Geschichte. Ursprünglich ging es darum, handliche Themen-Container zum frühkindlichen Lernen zu entwickeln. Einen Chemie-Container oder einen für Physik zum Beispiel, die die Kitas sich ausleihen können. Aber schon bei der Recherche stellten Uta und Konrad Mette fest, dass es ähnliche Angebote gab, zum Beispiel bei großen Spiele-Herstellern. Deren Umsetzungen entsprachen Mettes Vorstellungen eher nicht, und so beschäftigte die Idee der flexiblen Kästen sie weiter, aus denen schließlich im Gespräch mit ihrem Architekten flexible Räume wurden. »Er arbeitete in Berlin an der Universität an ähnlichen Ideen, und eines Tages fragte er uns: Was haltet ihr von ganz großen Containern? Mit seinen Studenten hatte er die Idee der transportablen Kita entwickelt, die auf einen Tieflader passt und überall hingestellt werden kann«, erzählt Konrad Mette. »Der nächste Schritt: mobile Möbel für große Räume. Die Tools also. Sie haben den Vorteil, dass man nicht unendliche Mengen von Material in die Kita schleppen und in Regalen sammeln muss. Das entfällt, denn der Stauraum der Tools ist beschränkt.«
»Dadurch lernen die Kinder, gezielt mit Materialien umzugehen, sich auf wenige, aber wesentliche Dinge zu konzentrieren, und nutzen häufiger ›wertloses‹ Material, das später den Weg alles Irdischen geht. Wenn sie draußen mit Ton bauen, stehen die Skulpturen, bis der Regen sie unkennt-lich macht und der Ton neu verarbeitet werden kann. Was den Kindern lieb und wert geworden ist, können sie mit nach Hause nehmen, denn wir haben es fotografiert oder gefilmt, also dokumentiert, und müssen es nicht horten wie die Hamster«, ergänzt Uta Mette. »Das leidige ›Meine Gruppe, meine Spiele, meine Silberlöffel‹ fällt auch weg.«
Experimentierfreude mit Nebenwirkungen
Wer wagt es, in einem Tool-Aquarium zu arbeiten? Wer bringt es fertig, immer neue Kinder einzugewöhnen, wenn er sich doch selbst erst gewöhnen muss?
»Claire Ahrens, unsere Leiterin, hat selbst viel mit Bewegung am Hut. Sie war schon im Vorstellungsgespräch von den Ideen überzeugt. Stefanie Spreckels, eine Erzieherin, hat sich bei uns beworben und fand das Raum-Konzept spannend. Steffen Rennefeld lernten wir per mail kennen«, erinnert sich Uta, »denn er war bis Mitte September vorigen Jahres in Afrika. Dort hatte er als Erzieher in einem Projekt für behinderte Jugendliche gearbeitet. Im Internet hatte er unsere Anzeige entdeckt. Seine Mutter kümmerte sich in Hamburg um die Unterlagen, schickte sie ihm nach Afrika, und von dort aus bewarb er sich mit allen Papieren nebst Foto. Das war schon mal super. Kaum war er hier, stellte er sich vor, und wir nahmen ihn sofort. Ich meine, hier müssen schon Leute arbeiten, die unkompliziert und klar sind, die Lust auf was Neues haben.«
Das Team – inzwischen sind es sechs Leute – ist experimentierfreudig. Das trifft sich, denn es muss immer wieder neue Probleme lösen. Ist es zu laut im Aquarium, wenn die Fischlein schwimmen? Reicht der Schallschutz, wenn die Kita voll ist? Kann man Elemente einfügen, die den Schutz verstärken? Das Konzept sieht vor: Es ist alles nachrüstbar...
Nerven sind nicht nachrüstbar. Nun, im Oktober 2006, kommt das Team langsam zur Ruhe, denn es hat ein anstrengendes Eingewöhnungsjahr hinter sich. 15 Kinder und drei Tools – das ist lange her. 45 Kinder sind es mittlerweile, die »Antje« aufgenommen hat. Kinder im Alter von acht Monaten bis zu vier Jahren. Die vierjährigen »Senioren« sind in der Minderheit – die Mehrheit bilden Krippenkinder. Mit folgendem Effekt: »Krankheiten ohne Ende bei den Kolleginnen«, seufzt Uta. »Als Claire Ahrens ganz verzweifelt eine Ärztin um Rat bat, sagte die: ›Kein Wunder. So lange Sie neue Kinder aufnehmen, bringen die neue Viren mit. Das ist bei Krippenkindern so.‹ Da mussten wir durch...«
Tools zum Schlafen, Malen und Essen
Die Kita bietet auf 360 Quadratmetern Plätze für 55 Kinder. Das schreibt das Muster-Raum-Programm Hamburgs vor. »Gleich nach der Eröffnung wurden sechs Kinder eingewöhnt – zwei um 9.00 Uhr, zwei um 11.00 Uhr und zwei um 13.00 Uhr. In der darauffolgenden Woche kamen zwei weitere Kinder dazu. Wir haben sie in Zweiergruppen eingewöhnt, weil etliche Kinder sich vorher schon kannten. So waren nicht nur neue Erwachsene, sondern auch bekannte Altersgefährten da. Das fanden die Kinder gut«, erinnert sich Uta.
In gewissem Sinne ist Eingewöhnung ja immer ein Experiment. In »Antjes« Räumen, in der möbelfreien Kita, jedoch erst recht. Wie gehen die Kinder mit diese sonderbaren Kästen, den Tools, um?
Konrad Mette: »Alle Tools, inzwischen sind es sechs, bedienen bestimmte Grund- oder Basisfunktionen. Basisfunktionen des Kuschel-Tools sind: Schlafen, ausruhen, vorlesen. Erweiterte Funktionen am Tag sind: Klettern, rutschen, sich zurückziehen, Ausguck sein… Es gibt ein Atelier-Tool, eins für Theater, eins für Musik – alle so gestaltet, dass die Kinder sie gut unterscheiden können. Wenn sie zum Beispiel bei Hagenbek im Zoo waren, öffnen sie danach vielleicht das Atelier-Tool, weil sie Tiere malen wollen...«
Die Tools – egal, ob für Basisfunktionen oder Erweiterungen konzipiert – sind mannshohe Kästen, die auf Rollen bewegt werden und denen man ansieht, dass sie in sich einen Raum bergen. Man sieht nicht, was drin ist, wenn sie geschlossen sind. Oben haben sie ein kleines Geländer, man kann sie besteigen. Sprossenwände führen in die Höhe.
Öffnet man die Türen – so ähnlich wie beim Kaspertheater –, sieht man im Kuschel-Tool einen Raum, in dem Matratzen liegen, treppenförmig angeordnet. Man erkennt eine Lade, die herausgezogen werden kann, so dass sich die Matratzenfläche vergrößert, auf der die Kinder herumkullern, schlafen oder gemütlich zuhören, wenn jemand ihnen etwas vorliest. Angenehmes Licht spendet eine integrierte Beleuchtung. Ein kleines Regal für Bücher, so dass ein Bibliotheks-Eckchen zum Anschauen und Blättern verführt, fehlt im Kuscheltool noch. Die Architekten, die auf Verbesserungsvorschläge warten, werden das bei der nächsten Tool-Serie sicherlich berücksichtigen. Am Atelier-Tool hängen außen bewegliche Elemente, die man abnehmen und in die Sprossenwand einbauen kann, als Staffelei oder Flipchart zum Beispiel.
Klappt man das Atelier-Tool auf, findet man weitere Staffeleien, die herausgenommen werden und an denen die Kinder malen können. An den Rosten der Sprossenwand kann man einen kleinen Tisch für Kinder einhängen, die gern im Sitzen malen. Innen ist das Atelier-Tool mit Farben, Pinseln und Papier bestückt, mit dem, was man zum Malen und Zeichnen braucht.
Das Musik-Tool enthält alle möglichen Rhythmusinstrumente. Ganz oben die wertvollen Dinge, die die Kinder nicht unbedingt allein nutzen sollen, und unten Instrumente, die sie sich jederzeit selbst nehmen können.
Die Tools sind so konzipiert, dass Teile geschlossen oder geöffnet werden können – je nachdem, was die Kinder vorhaben. »Bei den jüngeren Kindern ist es oft sinnvoll, Zugangsmöglichkeiten zu beschränken«, erklärt Uta. »Sie müssen nicht immer 100 Instrumente zur Verfügung haben. Das würde sie überfordern.«
Das Theater-Tool hat aufklappbare Türen, die wie Paravents als Raumteiler fungieren oder eine Art abgeschlossenen Raum schaffen, zum Beispiel für Schattenspiele mit weißem Tuch und einer Lichtquelle.
Die Rollos an einigen Tools haben ihren Geist inzwischen aufgegeben. Ein Problem, das auch der Deutschen Bahn nicht fremd ist. Mal sehen, was den Architekten dazu einfällt...
Selbst zu den Mahlzeiten wird ein Tool herbeigerollt, ein ganz kurioses Teil. Genau genommen ein Klapptisch, unter dem, wenn man ihn öffnet, kleine Stühle hervorkommen. Man kann die Kinder fragen: Wo wollen wir heute essen? Hier, dort hinten oder draußen...
Was kostet eigentlich so ein Tool? »Die Tools sind in der Entwicklungsphase – es steckt also noch viel Arbeit drin. Ein Tool kostet jetzt 5.000 bis 6.000 Euro. Später wird das preiswerter«, hofft Konrad.
Kontakt
Kindergarten »Antje«
Hugh-Greene-Weg 6 · 22527 Hamburg
Tel.: 040/54 88 07 40 · Fax: 040/54 75 18 09
mail:
Geschäftsstelle Kindergärten Finkenau e.V.
Vogelweide 9 · 22081 Hamburg
Tel.: 040/298 30 31 · Fax: 040/298 30 34
mail:
Reiner Maria Löneke
Architekten
Winterfeldtstr. 17 · 10781 Berlin
Tel.: 030/217 53 207 · Fax: 030/217 53 218
mail:
Konrad Mette ist Sozialpädagoge und gründete 1975 den Kindergarten »Hölderlinsallee«. Bereits in dieser Elterninitiativ-Kita stand auf dem pädagogischen Programm: viel Bewegung für Stadtkinder, gemeinsam kochen, Kinder mit Beeinträchtigungen integrieren und mehrmals im Jahr verreisen. Weitere Einrichtungen kamen hinzu, und 1990 entstand der Verein Kindergärten Finkenau.
Konrad ist für Personalentwicklung, die pädagogische Weiterentwicklung der Einrichtungen und die Umsetzung neuer Projekte zuständig. Darüber hinaus ist er stets auf der Suche nach Sponsoren und Kooperationspartnern.
Uta Mette ist Erzieherin, Diplom-Psychologin, systemische Therapeutin und für das Fortbildungsprogramm zuständig. Sie begleitet die Einrichtungen, unterstützt die Teams durch Fall-Supervisionen und hat ein Beratungsangebot entwickelt, das Kinder- und Elternsprechstunden sowie Erste Hilfe in Extremsituationen umfasst.
Über die Geschichte des Hamburger Kita-Unternehmens berichtete »Betrifft KINDER« bereits in den Heften:
3/04: Aus Bleibtreus Küche in die Hölderlinsallee
8/04: Alles anders in der Hölderlinsallee
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11/06 lesen.