Die Qualität von Bildungsprogrammen, die Dilemmata deutscher Bildungspolitik und Perspektiven der Entwicklung
Vor mehr als drei Jahren stellten die Bundesregierung und Prof. Dr. Wassilios E. Fthenakis das Gutachten »Perspektiven zur Weiterentwicklung des Systems der Tageseinrichtungen für Kinder in Deutschland« vor. Damals zog Prof. Dr. Fthenakis zehn zentrale Schlussfolgerungen, die als Leitlinien für die mittel- und längerfristige Weiterentwicklung der Kindergärten dienen können. Betrifft KINDER bat den Professor um Auskunft über den Stand der Entwicklung und die Perspektiven.
1. Frühkindliche Förderung umfassend verbessern
Vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Bildungsforschung und der Entwicklungspsychologie, die die zentrale Bedeutung der ersten sechs Lebensjahre herausstellen, wird deutlich, in welchem Maße derzeit Entwicklungschancen von Kindern in Deutschland ungenutzt bleiben. Die bei der PISA-Studie erfolgreich abgeschnittenen Länder haben sich diese Erkenntnis zueigen gemacht. Auch in Deutschland muss frühkindliche Förderung den anderen Bildungsbereichen im Stellenwert gleichgestellt werden, ohne eine Verschulung von Kindheit einzuleiten.
Wassilios Fthenakis:
Noch nie wurde in den letzten zehn Jahren soviel über die Bedeutung und den Stellenwert von Bildung in den frühen Jahren gesprochen, wie das heute in der Bundesrepublik der Fall ist. Bundesweit ist die Bildungsdebatte die zentrale Debatte, motiviert durch das »Forum Bildung« mit seinen Aussagen zur Bedeutung der frühen Förderung, durch die PISA-Befunde, die Starting-Strong-Studie und die OECD-Studien »Bildung auf einen Blick«. Zwar haben diese Studien auf gewisse Defizite hingewiesen, aber sie alle haben dazu beigetragen, die Diskussion anzufachen.
Das Neue an der Bildungsdebatte heute, verglichen etwa mit der Bildungsdebatte der 1970er Jahre in den alten Bundesländern, besteht darin, dass es nicht mehr die Pädagogen sind, die überwiegend diese Debatte motivieren und inhaltlich füllen. Vielmehr sind es vielfältige Argumentationslinien, die den hohen Stellenwert früher Bildungsprozesse begründen (siehe Kasten 1: Argumentationslinien, die eine Reform des Bildungssystems nahe legen und begründen)
Seitdem wir Bildungspläne entwickeln und einführen, gibt es kein Bundesland, das diesen Gedanken nicht aufgenommen und in irgendeiner Form und Qualität umzusetzen versucht hat. Eine der wesentlichsten positiven Entwicklungen, die ich gegenwärtig sehe, ist, dass es erstmalig gelingen konnte, den Bildungsauftrag nicht eng begrenzt auf die Einrichtung »Kindergarten« zu definieren, sondern dass man dazu übergegangen ist, institutionsübergreifende, nämlich Pläne der zweiten Generation, wie den Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan, zu entwickeln und einzuführen. Das halte ich für einen kleinen Quantensprung im Denkansatz, denn es ist erstmalig so weit, dass wir die Grenzen separater Welten sprengen und den Blick auf das Kind, sein Lernen und seine Entwicklung, zugleich auf verschiedene Lernorte richten – und nicht primär auf die Institutionen.
2. Kindertageseinrichtungen auf westeuropäisches Niveau ausbauen
Es wird ein zeitlich flexibles Angebot benötigt, das sowohl den Bedürfnissen der Kinder entspricht als auch den Alltagsrealitäten von Eltern, die erwerbstätig sein wollen. Mit Blick auf die bislang unbefriedigende Situation der Tagesbetreuung in Deutschland wird der weitere quantitative Ausbau des Systems der Tageseinrichtungen dringend empfohlen. Als mittelfristige Ausbauziele werden ein Platzangebot für bis 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren und für mindestens 40 Prozent der Schulkinder im Alter bis zu 14 Jahren genannt.
Wassilios Fthenakis:
Es ist ein mutiger Schritt, den es in dieser Form im Westen Deutschlands bislang nicht gegeben hat, anzuerkennen, dass der Ausbau des Systems erforderlich ist, ohne die alten Ideologien von Mutterschaft wieder aufzuwärmen. Zum ersten Mal hat der Bund Verantwortung für dieses Gebiet mit übernommen, zumindest in der Bereitstellung finanzieller Ressourcen. Es ist zu wünschen, dass die Kommunen ihre Verantwortung erkennen und die Bereitschaft zur Umsetzung dieser Pläne aufbringen. Denn bei der eingeleiteten starken Kommunalisierung des Bereichs kann es nur gelingen, die Ziele in der vorgegebenen Zeit zu erreichen, wenn Bildung in der frühen Kindheit und außerschulische Betreuung ganz oben auf der kommunalen politischen Agenda stehen. Es ist erfreulich, dass Bund, Länder und Kommunen sich jüngst auf den quantitativen Aufbau der Bildungsangebote für Kinder unter drei Jahren verständigt haben. Denn wir können uns nicht weiterhin erlauben, das Land ohne ein gut funktionierendes Betreuungssystem zu belassen. Meine Sorge bei all diesen lobenswerten Bemühungen bezieht sich auf die Bildungsqualität und deren Sicherung. Denn wir müssen bedenken, dass wir für die unter Dreijährigen derzeit über kein fachlich fundiert ausgearbeitetes Bildungskonzept verfügen. Es ist dringend an der Zeit, ein Bildungskonzept vorzulegen bzw. die vorhandenen Bildungspläne nach unten zu differenzieren. Dabei sollten wir die Perspektive verändern: Das Bildungsprogramm sollte konsequent aus der Perspektive des Kindes entwickelt werden und die kindliche Entwicklungs- und Lernbiographie in den Mittelpunkt stellen. Dadurch, dass die Familie eine zentrale Rolle dabei spielt, sollte sie in der Konstruktion des Bildungsplans berücksichtigt werden. Von diesen beiden Perspektiven ausgehend sollten dann die Anforderungen an die anderen Bildungs- und Lernorte wie Krippe, Kita, Tagesmütter etc. adressiert werden. Je jünger die Kinder sind, desto komplexer und integrativer müssen die Bildungskonzepte sein. Meine zweite Sorge ist, dass wir gegenwärtig kaum bzw. keine gut ausgebildeten Pädagogen für Kinder unter drei Jahren in der Bundesrepublik haben. Wenn wirklich 35 Prozent aller unter Dreijährigen einen Platz bekommen sollen, dann müssen wir allein zwischen 80.000 und 100.000 neue Planstellen besetzen. Dafür fehlen die gut ausgebildeten Erzieherinnen. Deshalb ist es überfällig, auf schnellem Weg ein fundiertes Konzept zu entwickeln und die Fachkräfte in den nächsten zehn Jahren intensiv professionell zu begleiten. Parallel dazu sind die Konsequenzen auf der Ausbildungsebene zu ziehen. Die Ausbildung muss stärker auf diese Herausforderung einlassen. Und nicht zuletzt: Das Verhältnis zwischen Einrichtung und Familie muss sich grundlegend ändern. Hier sollte die Familie viel stärker als in allen anderen Bildungsbereichen integriert und die Kooperation zwischen Familie und dem jeweiligen Lernort muss im Sinne einer Bildungspartnerschaft gestärkt werden. Diesen drei Herausforderungen fachlich fundiert wie kreativ zu begegnen ist das Minimum, was uns beim quantitativen Ausbau der Plätze gelingen muss.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/07 lesen.