Eine spezielle Form von »assessment«
Gefördert von zahlreichen Kooperationspartnern1, führte das Deutsche Jugendinstitut von 2004 bis 2007 in Zusammenarbeit mit 25 Kindertageseinrichtungen und mehr als 120 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren das Projekt »Bildungs- und Lerngeschichten« durch. Ziel des Projekts war es, das von Margaret Carr in Neuseeland entwickelte assessment-Verfahren2 der »learning stories« für den deutschen Sprachraum zu adaptieren und seine Verbreitung in Deutschland einzuleiten. Dank einer Finanzierung durch das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend und die Stiftung Aktion Mensch läuft zurzeit eine zweite Projektphase3 bis Anfang 2009.
Dabei geht es darum, im Rahmen einer Fachstelle, die über die Arbeit mit »Bildungs- und Lerngeschichten« informiert, Fachkräfte berät, Multiplikatorinnen und Multiplikatoren vernetzt, die Nachhaltigkeit der Implementierung der »Bildungs- und Lerngeschichten« in der Praxis zu sichern. Außerdem werden im Rahmen dieser Projektphase ergänzende Materialien entwickelt, die den Einsatz von »Bildungs- und Lerngeschichten« in der Tagespflege, beim Übergang vom Kindergarten in die Schule und im Hort sowie die Vermittlung der erforderlichen Kenntnisse bereits in der Ausbildung unterstützen. Gegenstand dieser Ergänzungen ist auch die Aufbereitung von Informationen für entwicklungspsychologisch fundierte Arbeit und mit Blick auf den Nutzen des Verfahrens für die Arbeit mit Kindern, die der Förderung bedürfen.
Im folgenden Beitrag stellen Katja Flämig, Yvonne Frankenstein, Hans Rudolf Leu und Irene Pack nach einem kurzen Blick auf die Fachdiskussion in Deutschland zunächst grundlegende Merkmale der von Margaret Carr entwickelten »learning stories« als assessment-Verfahren dar. Anschließend zeigen sie auf der Grundlage des DJI-Projekts, wie mit den »Bildungs- und Lerngeschichten« gearbeitet wird, welchen Nutzen diese Arbeit für alle Beteiligten hat und welche Rahmenbedingungen nötig sind.
Die Wertschätzung, die der Frühpädagogik seit einigen Jahren entgegengebracht wird, und die verbreitete Hoffnung, dass Förderung im Kindergarten zur Minderung der durch PISA besonders eindringlich belegten Chancenungleichheit beitrage, hat als unübersehbare Begleiterscheinung die Erwartung gesteigert, dass das, was im Kindergarten gelernt wird, auch transparent gemacht werde. Über die in Kindertageseinrichtungen bereits seit längerem geführten Qualitätsdebatten hinaus, bei denen strukturelle Merkmale und die Leistungen der Fachkräfte im Mittelpunkt stehen, geraten auch die Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder ins Blickfeld.
Wege zu finden, um bei den Kindern Lernfortschritte zu messen, lag der Frühpädagogik in Deutschland traditionellerweise fern, wenn man von Verfahren absieht, die für eine Früherkennung von Entwicklungsrisiken eingesetzt werden. Zu sehr schien die Feststellung von Kompetenzen und Fähigkeiten der Kinder mit der Vorstellung von Schulnoten und schulischem Lernen verknüpft.
Trotzdem ist heute ein Boom an Instrumenten zu beobachten, die angeboten oder zum Teil von Fachkräften aus Kindertageseinrichtungen entwickelt werden, um Lernfortschritte bei Kindern aufzeigen zu können. Der Druck, Lernerfolge nachzuweisen, scheint groß zu sein. Es handelt sich dabei oft um eine Art von »Checklisten«, die ohne großen Aufwand eingesetzt werden können. Das liegt daran, dass sie in der Regel klar vorgeben, worauf zu achten ist, woran man Entwicklungsfortschritte und Kompetenzzuwächse bei den Kindern erkennen kann. Gleichzeitig ist damit eine Einengung des Blickfelds verbunden, in dem beobachtet wird.
Solange solche Instrumente auf einer theoretischen Grundlage entwickelt wurden, aus der sich eine tragfähige Begründung für diese Einengung des Blicks ergibt und die Instrumente auch empirisch überprüft sind, sollten sich mit ihnen Entwicklungsstände von Kindern feststellen und vergleichen lassen. Offen bleibt allerdings die Frage der Konsequenzen, die daraus für die pädagogische Arbeit zu ziehen sind.
Abgesehen von dieser ungeklärten Frage fehlt aber einer Vielzahl der angebotenen oder von Fachkräften selbst entwickelten Instrumente sowohl die theoretische als auch die empirische Grundlage. Die Folge ist, dass solche Instrumente die Aufmerksamkeit der Fachkräfte auf Merkmale des Kindes oder seines Verhaltens lenken, von denen völlig unklar ist, ob oder was sie überhaupt über die Entwicklung des Kindes aussagen. Sie können damit zu wahren Beobachtungs-Verhinderungs-Instrumenten werden, von deren Einsatz dringend abzuraten ist.
Ein besonderer Schwerpunkt liegt zurzeit auf Verfahren zur Sprachstandsfeststellung und -förderung, die inzwischen in praktisch allen Bundesländern eingesetzt werden. Das entspricht der grundlegenden Bedeutung, die der Sprache für die Entwicklung der Kinder in den unterschiedlichsten Bildungsbereichen zugeschrieben wird. Auch hier werden immer noch viele Instrumente und Verfahren eingesetzt, deren Messqualität und Effektivität in der Förderung ungeklärt ist.4 In diesem Bereich werden aber einige Anstrengungen unternommen, um solche Qualitätsfragen zu klären.
Neben diesen Formen von »assessment«, die sich auf Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder konzentrieren, wurden in den letzten Jahren auch Beobachtungsverfahren entwickelt, bei denen die Aktivitäten der Kinder, ihre Interessen und ihre Formen der Auseinandersetzung mit Angeboten und Anforderungen im Mittelpunkt stehen. Solche »prozessorientierten Beobachtungen« arbeiten mit Konzepten wie »Schemas«5, »Themen der Kinder«6 oder »Lerndispositionen« – wie der im Folgenden dargestellte Ansatz der »Bildungs- und Lerngeschichten«.
Ein wesentliches Ziel dieser Ansätze ist es, das Handeln der Kinder zu verstehen, nachzuvollziehen, welche Interessen Kinder mit ihrem Tun verfolgen und welche Deutungs- und Orientierungsmuster ihren Tätigkeiten zugrunde liegen. Dahinter steht die der konstruktivistischen Sicht entsprechende Annahme, dass ein solches Wissen eine wesentliche Grundlage für die Unterstützung von Lernen bildet, weil Förderung an den Fähigkeiten und Kenntnissen anknüpfen muss, über die Kinder bereits verfügen.
Wie im Folgenden gezeigt werden soll, lassen sich aus den Ergebnissen einer solchen Form der Beobachtung Folgerungen für die pädagogische Arbeit ziehen, in denen sowohl die Besonderheiten des Kindes als auch die für eine Unterstützung erforderlichen situativen Gegebenheiten in den Blick kommen. Im Mittelpunkt steht die individuelle Förderung. Nicht beantwortet wird durch die für »prozessorientierte Beobachtungen« entwickelten Instrumente allerdings die Frage, ob das jeweils beobachtete Kind sich altersgemäß entwickelt hat. Auch lassen sich aufgrund der Auswertungen die Kompetenzen und Fähigkeiten verschiedener Kinder nicht vergleichen. Dafür sind standardisierte Instrumente mit entsprechender theoretischer und empirischer Basis erforderlich.
Eine dieser Unterscheidung von Formen von »assessment« ähnliche Gegenüberstellung eines »folk model of assessment« und der von Carr mit den »learning stories« entwickelten Alternative steht am Beginn ihres Buches über »learning stories«7. Carr bezieht sich dabei auf grundlegende Merkmale des neuseeländischen Curriculums für den frühpädagogischen Bereich.
»Learning stories« als alternative Form von »assessment«
Im neuseeländischen Curriculum werden fünf Stränge oder Ziele herausgearbeitet, denen für das Lernen von Kindern besondere Bedeutung beigemessen wird. Das »Te Whariki« benennt diese Ziele: Zugehörigkeit, Wohlbefinden, Exploration, Kommunikation und Partizipation. Damit verbunden ist ein Verständnis von Lernen, in dem soziale, emotionale und kognitive Lernaspekte integriert sind. Hervorgehoben wird die wechselseitige Beziehung zwischen Lernendem und Lerngelegenheit, also zwischen Kindern und ihrer Lernumwelt, zu der sowohl Dinge als auch andere Kinder und Erwachsene gehören, mit denen sie gemeinsam Konzepte und Begriffe konstruieren, um ihre Umwelt zu begreifen und zu verstehen. Das Curriculum fokussiert dabei nicht die Förderung oder den Erwerb einzelner Fertigkeiten, sondern es rückt Dispositionen zum Lernen ins Zentrum des Interesses: Die Kinder »sollen als kompetent und selbstbewusst Lernende und Kommunizierende aufwachsen, gesund an Körper, Verstand und Geist, sich sicher fühlen durch ein Bewusstsein der Zugehörigkeit und in dem Wissen, dass sie einen wertvollen Beitrag zur Welt darstellen«.8
Vor diesem Hintergrund hat Carr in Neuseeland das Projekt »Assessing Children’s Learning« initiiert, um ein geeignetes Beobachtungs- und Dokumentationsverfahren zu entwickeln, das in allen Einrichtungen in Neuseeland eingesetzt werden kann und in Einklang mit den curricularen Rahmenvorgaben des »Te Whariki« steht. Die mit den »learning stories« eingeleitete Form von »assessment« charakterisiert sie in sieben Punkten als Alternative zu einer »herkömmlichen Form« (»folk model«) von »assessment«9. Das generelle Ziel herkömmlicher Formen von Beobachtung anhand von Bögen und Checklisten ist es demnach, verschiedene Fähigkeiten abzuprüfen, von denen angenommen wird, dass sie Ausdruck von Schulreife seien.
Im Unterschied dazu geht es bei Beobachtungen im Kontext der »learning stories« in erster Linie um die Verbesserung und Steigerung des Lernvermögens. Während herkömmliche Verfahren auf das standardisierte Erfassen von Fähigkeiten unabhängig von der konkreten Handlungssituation zielen, werden mit den »learning stories« die unten genauer dargestellten »Lerndispositionen« ins Zentrum gerückt. Die Konzentration auf Wissenslücken der Kinder, die durch Instruktionen gefüllt werden sollen, ersetzt Carr durch einen Blick auf Kinder, der deren Ressourcen und Kompetenzen in den Vordergrund rückt. Statt die Validität der Beobachtung durch standardisierte und eindeutig festgelegte Kriterien zu sichern, setzt sie auf Validierung durch den diskursiven Austausch zwischen unterschiedlichen Interpretationen der beteiligten Akteure (Fachkräfte, Kinder, Eltern). Lernfortschritte erweisen sich nach dem Modell von Carr an zunehmend komplexerer Partizipation der Kinder an ihrem Alltag und nicht an der Komplexität situationsunabhängiger Fertigkeiten. Die klassische Prozedur des Abhakens von Checklisten wird durch »learning stories« ersetzt. Während der Nutzen der Beobachtung von Kindern traditionell daran gemessen wurde, wie gut sie sich für externe Evaluation eignete, sieht das alternative Modell nach Carr den Wert der Beobachtung darin, mit Kindern, Familien und dem pädagogischen Team in der Kindertageseinrichtung zu kommunizieren und die eigene Praxis zu überdenken.
1 Finanziert wurde das Projekt durch Mittel des Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, der entsprechenden Ministerien der Länder Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Hessen, der Stadt München sowie der Bertelsmann und Heinz Nixdorf Stiftung, der Bernard van Leer Foundation und der Max-Traeger-Stiftung. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Unterstützung gedankt.
2 Übersetzt haben wir den Begriff »assessment« in unserem Projekt »Bildungs- und Lerngeschichten« mit »Erfassen und Bewerten«, ohne mit dieser Formulierung ganz glücklich zu sein. Es gilt auf jeden Fall, dass der Bezugspunkt für das »Bewerten« individuelle Lernfortschritte sind und nicht der Vergleich zwischen unterschiedlichen Kindern.
3 www.dji.de/lerngeschichtenweiterentwicklung
4 Vgl. dazu Jampert u.a. 2007
5 Hebenstreit-Müller/Kühnel 2004
6 Andres/Laewen 2005
7 Vgl. Carr 2001, S. 3ff.
8 Ministry of Education 1996, S. 9
9 Vgl. Carr 2001, S. 3ff.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10-11/07 lesen.