Den Themen der Kinder auf der Spur
Montagmorgen in der Kita-Rieselfeld in Freiburg. 9.30 Uhr treffen sich die sechs Stammgruppen kurz zu ihrer Kinderversammlung. Sie besprechen, wer von den Kindern und Erwachsenen anwesend ist und was am Tag ansteht. Im blauen Zimmer führt der fünfjährige Markus Protokoll: Schreibt, nachdem die Kinder gemeinsam überlegt haben, welcher Wochentag und welche Jahreszeit ist, das Datum an die Tafel: »30.7.2007«, die Sieben riesig über das ganze Blatt und die Drei, wie ein »E«. Die Erzieherin liest ein Gedicht mit einer langen, lustigen Einkaufsliste vor und muss es wiederholen, so erfreuen sich die Kinder an den Reimen: »ein Fitzel, Nervenkitzel«. Dann sagt jedes Kind, was es heute machen möchte. Die Erzieherin schickt einige Jungen nach einem verregneten Wochenende in den Garten, erinnert andere daran, womit sie in der vergangenen Woche begannen, ehe alle Mädchen und Jungen ausströmen. Bis 11.30 Uhr ist Forscherzeit und das Haus mit seinen sechs nach Farben geordneten Gruppenräumen und dem Garten mit vielen Verstecken zwischen Büschen und Bäumen bietet viele Lerngelegenheiten.
Welche Chance geben unsere Materialien einem Kind all seine Intelligenzen zu entfalten?
Seit die Kita vor zehn Jahren eröffnet wurde, arbeitet sie mit einem offenen Konzept. Zu Bau- und Leseecke, Werkstatt und Atelier entwickelten die Erzieherinnen und Erzieher ihre eigenen – wie die Kita-Leiterin Claudia Frey heute sagt – handgestrickten Beobachtungsbögen: Wer war wie lange in welchen Raum und was hat das Kind dort getan? Doch sie merkten bald: So werden sie den Kindern als Konstrukteuren, Künstlern und Forschern nicht gerecht! Das Team war entschlossen, weiter nachzudenken, was sie als Erwachsene tun können, damit sie den Kindern in ihrer Neugier gerecht werden und ihre Selbstbildungsprozesse unterstützen können. Die Begegnung mit den Infans-Gründern Beate Andres und Hajo Laewen im Jahre 2003 kam ihnen gerade recht. In Baden-Württemberg wurden Modelleinrichtungen gesucht, die bereit waren, deren Konzept für die frühkindliche Bildung zu erproben und weiter zu entwickeln.
Bei ihrer ersten Fortbildung drückten die Wissenschaftler den Erzieherinnen und Erziehern zunächst einen Fragebogen in die Hand. Nach dem Konzept der multiplen Intelligenz von Howard Gardner sollten sie für jedes Kind herausfinden, welchen Zugang es zur Welt wählt: Ist es eher die Musik, die Sprache, das praktische Tun, die Bewegung, die wissenschaftliche Analyse?
»Dadurch fiel uns erst auf, dass wir gar nicht beobachten können, ob ein Kind eher praktisch veranlagt ist und Dinge auseinander nimmt, weil es gar keinen Raum mit Technik gab«, erinnert sich Manuela Schopp. Damals brachte jemand einen alten Fleischwolf mit. Den baute ein Junge begeistert immer wieder auseinander und zusammen. Doch so gern er montierte, malen und einen Bleistift anfassen mochte er nicht. »Ist der Zugang über Technik ein Weg, ihn auch in anderen Bereichen zu fördern?«, überlegten die Pädagogen schon mit dem Infans-Ansatz und erklärten ihm, dass möglicherweise nicht alle Kinder so geschickt wie er das Gerät wieder zusammenbauen könnten. Bereitwillig zeichnete er alle Teile einzeln auf und versah sie mit Nummern, lieferte später auch Gebrauchsanweisungen von anderen Geräten. Er war bei seiner Stärke gepackt und herausgefordert! Das zu erleben, spornte auch die Erzieherinnen an. »Wir gingen durch die gesamte Kita und fragten uns für jede dieser Intelligenzen: Gibt es Flächen oder Orte in den Gruppenräumen oder außerhalb, an denen die Kinder ihren Interessen in diesem Bereich ungestört und in Ruhe nachgehen und ihre Potenziale ausleben können?«, besinnt sich Maria Lazzaro an diesen Neubeginn.
Zumutungen aus der Erwachsenenwelt bereichern den Alltag
Das gelbe Zimmer wurde so zum Ort für die Naturforscher. In einer Ecke finden sich Schmetterlinge und Bienen, ein präparierter Lurch und ein Vogel, das Innenleben einer Schnecke und ein Hornissennest, Minerale und Kristalle, Muscheln und Sande von Stränden verschiedener Kontinente, alles in Reichweite der Kinder, nicht museal präsentiert, immer mit Druckbuchstaben beschriftet. So finden sich auch die für die Kinder wichtigen Dinge abgemalt und abgeschrieben in ihren Expertenheften wieder.
Dabei überlegten die Erzieherinnen und Erzieher bei der Gestaltung der Räume jeweils: Wo begegnet uns eine technische, musikalische, künstlerische, mathematische Befähigung in unserem Alltag? Was beispielsweise heißt Bauen und Gestalten in der Erwachsenenwelt? Woran sollen sich die Kinder orientieren? Was imponiert uns? Seitdem zieren Bilder von Bauwerken der Welt wie vom schiefen Turm in Pisa oder vom Burj-Al-Arab Hotel in Dubai ebenso die Wand im roten Zimmer wie ein riesiger auf Pergament gezeichneter Bauplan vom Freiburger Münster. Und im blauen Zimmer, das seinen Schwerpunkt im Bereich Kunst fand, verbreiten Bilder von Steinzeitfresken und Stichen von Albrecht Dürer, mit Gemälden von Goya, Marc oder Frieda Kahlo, Blumen, Engeln oder Mandalas sowie Papierplastiken und Masken eine eigene kreative Atmosphäre.
Gleichzeitig sind alle Räume mit Schriften und Schriftzeichen der verschiedenen Kulturen durchdrungen: sind die Stufen der Treppe zum zweiten Stock nummeriert, steht ein Willkommensgruß in den Sprachen der Kita am Eingangsbereich, hat jede Gruppe ihre Form, täglich das Datum festzuhalten, sind mathematische Formeln und Noten in dem Haus nichts Fremdes, entdeckt man die alte Sütterlinschrift, Chinesisch und Arabisch. Mittags leihen die Kinder in einer kleinen Bibliothek im Haus Bücher aus. In einer Schreibwerkstatt gestalten und beschreiben sie Hefte und Bücher und tatsächlich schreiben auch die Jüngsten schon ihren Namen auf das Bild oder die Liste für den Spielstand beim UNO.
Den Themen der Kinder auf der Spur
Einige Erzieherinnen und Erzieher befürchteten angesichts dieser Veränderungen zunächst, die Kinder könnten überfordert sein. Es hieß »Die sind doch noch so klein!«. »Bei den Kindern aber merkten wir: Die nehmen diese Herausforderung an, lassen die Eindrücke auf sich wirken und nehmen das, was für sie wichtig ist, auf.« so Maria Lazzaro weiter. »Darauf bauen wir dann wieder auf, weil wir die Interessen und Themen der Kinder besser erkennen können. Und sie bekommen mehr Möglichkeiten, etwas von sich zu zeigen: bauen andere Gebäude, malen differenzierter, beschriften alles.« Das Weltwissen nicht nur der Siebenjährigen ist für die Mädchen und Jungen aufgebaut und sie brauchen nur noch zu greifen, zu schauen, zu lauschen, zu spüren und weiter zu fragen. Denn jeder der Räume wurde und wird erst reich, weil die Erzieherinnen und Erzieher sich immer wieder auf den Lernwillen der Kinder einlassen und neue Lerninseln den Räumen hinzufügen. Wie entsteht ein Würfel, wollte ein Kind in »Orange«, dem Spezialraum für Zahlen und Geometrie, wissen? Wie kann ich ihn falten? Und was passiert, wenn die Kanten nicht gleichlang sind? Das interessierte auch andere Kinder und plötzlich wurden die geometrischen Figuren zu Sprachübungen genutzt: Ein Dodekaeder und Ikosaeder muss man erst aussprechen und richtig benennen können. Die Eltern berührte offensichtlich auch hier die Ernsthaftigkeit, mit der die Erzieherinnen der Neugier folgten. In einer gemeinsamen Aktion sammelten sie das Geld, um ein Set von geometrischen Figuren zu kaufen, das heute allen zur Verfügung steht.
Von Anfang an verlangte das Infans-Konzept wache und dialogbereite Erzieherinnen und Erzieher. Sie sollten diese Lernprozesse beobachten, die Interessen und Themen der Kinder dahinter erkennen und mit ihnen darüber sprechen, alles mit ihren Erziehungszielen abgleichen und in Portfolios festhalten. Erst auf dieser Grundlage bedenken und entscheiden sie über ihr pädagogisches Handeln, mit dem sie die Kinder begleiten. »Wie kriegen wir das nur alles bewältigt?« fragte sich das Team vor vier Jahren. Täglich eine Beobachtung erwarteten die Infans-Fortbildner! Also schauten sie sich ihren Tagesablauf noch mal genau an. Wer tut was wann? Dabei fielen den Erzieherinnen und Erziehern etliche Zeitpuffer auf. Muss man wegen jeder Absprache zu einem Kollegen rennen? Heute trifft sich das Team morgens um 9 Uhr kurz, um sich zu vereinbaren. Oder müssen zwei Erzieherinnen oder Erzieher in einem Raum sein, wenn die Kinder selbstständig ihren Themen nachgehen?
»Ich habe mich dann immer um 10 Uhr hingesetzt und aufgeschrieben, was ich sehe.« meint Maria Lazzaro. Dadurch wurde es für sie selbstverständlich, das kindliche Tun aufmerksam wahrzunehmen. Eine feste Zeit braucht sie heute nicht mehr dafür. Vielmehr entwickelte sie ein Gespür, wann bei einem Kind ein neuer Schritt passiert. »Schwierig war vor allem, nicht zu bewerten und objektiv zu bleiben«, meint Manuela Schopp. »Was tut das Kind? Nicht: Was denke ich darüber?«
Ein Mädchen aus ihrer Gruppe, Julia, malte immer wieder ein Haus, einen Apfelbaum, eine Wolke. Wenn sie stickte, entstand ein Haus. Und oft zog sie sich in einer Höhle zurück, die sie mit Stühlen und Tüchern baute. Nach vier bis fünf Beobachtungen versuchte Manuela Schopp zu entschlüsseln: Womit setzt sich dieses Mädchen auseinander? Einige der Themen wiederholen sich und finden sich bei allen Kindern: Großwerden, die Sprache entdecken, Freunde finde. Doch darin, wie sie sich dem Thema nähern, zeigt sich auch ihre Individualität. Julia war erst neu in die Kita gekommen, musste sich eingewöhnen. »Ist Heimat ihr Thema, Geborgenheit finden?« überlegte Manuela Schopp mit den Kollegen. Sie schlug dem Mädchen vor, einen Ausflug zu ihrem Haus zu machen und den anderen Kindern zu zeigen, wo sie wohnt. Offensichtlich war das ein guter Schritt. Denn anschließend malte das Mädchen das Haus von außen auf und ein paar Wochen später zeigte sie auf ihren Bildern auch, wie es drinnen aussieht. »Willst du deine Zeichnungen in unserem Gruppenraum ausstellen?«, fragte die Erzieherin das Mädchen weiter und die fand das gut. »Julia fühlte sich wichtig genommen und ging mehr als zuvor aus sich heraus.« An diesem Beispiel erlebte Manuela Schopp, wie ihr die Dokumentation hilft, die Kinder in ihrer Besonderheit wahrzunehmen und zu begleiten. Das schätzen auch die Eltern. Zweimal jährlich finden Elterngespräche statt. Dazu schauen sich auch die Mütter und Väter die dicken Ordner an, in denen die Beobachtungen und das auf dieser Basis geschriebene individuelle Curriculum abgeheftet sind. Julias Mutter fiel dabei auf, dass ihre Tochter daheim selbst die Pizza mit einem Haus belegte und auch aus Büchern Häuser aufstellte. Oft überlegen Eltern und Erzieherin nach solch einem Gespräch gemeinsam weiter, wie in der Kita und zu Hause ein Thema aufgegriffen und ein Kind in seinem Lernen begleitet werden kann.
Babara Leitner
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10-11/07 lesen.