Die (Um-)Wege, die das Team des Stuttgarter Kindergartens Wildgansweg in seiner Entwicklung nimmt
»Wie kann ich über diese Einrichtung wertschätzend schreiben?«, kreiselt es in meinem Kopf, nachdem ich die Räume der städtischen Tageseinrichtung für Kinder Wildgansweg in Stuttgart gesehen hatte: Ein anregendes Musikzimmer zwar, in dem die Kinder entlang eines Zeitstrahls von CDs die Klänge der Epochen und das dazugehörige Outfit kennen lernen können; ein Raum für Naturwissenschaften, in dem sie erleben, wie Schwingung entsteht und der Strom in Reihen- und Parallelschaltung fließt sowie die Wasserbaustelle im Bad, auf der sie Dinge schwimmen lassen und auflösen können.
Doch die anderen Orte enttäuschten mich: Der Kunstraum ohne faszinierende Kinderbilder und mit nur zwei Bildern aus der Erwachsenenwelt wirkte so nüchtern; der Rollenspielraum, gerade auch mit Hilfe von Eltern neu entstanden, nur mit Telefon, Waage, Tellern noch kahl; der Bewegungsraum beherrscht von einer Riesenmatte, die nicht zu vielen Spielen einlädt. An den Wänden präsentierten die Erzieherinnen nur einen überraschenden Lernprozess eines Kindes. Es malte den Grundriss der Kita wie auf den Kopf gestellt. »Wieso haben die Erzieherinnen nicht mehr entdeckt?«, fragte ich mich, der Neugier und des Lerneifers eines jeden Kindes gewiss.
Im Ferienbetrieb sind nur wenige Mädchen und Jungen anwesend. Von den Schulkindern erleben 25 eine Woche in der »Kinderstadt«, wie es ist, sich mit ihrer Lust zum Backen, Filmen und Gestalten, Erfinden und Bauen auf dem Markt der Möglichkeiten anzubieten, dafür mit Kindertalern bezahlt zu werden, für die sie sich wiederum Essen und Angebote kaufen können. Eine Ferienaktion, die auch die Erzieherinnen vom Wildgansweg mit vorbereiten und betreuen.
Die kleinen Kinder allerdings sind in der Gruppe beschäftigt und testen auf der Matte im Sportraum jeweils im Kampf zu zweit ihre Grenzen aus – aufeinander losgelassen und getrennt von der Erzieherin. Die sitzt später mit den Vier- und Fünfjährigen mit gekreuzten Armen am Tisch und fordert sie auf, die Händen der Reihe nach auf den Tisch zu schlagen. Eine spielerische Koordinationsübung. Aber mich zwickt es im Bauch, so erschreckt mich der Ton der Anleiterin. Ich fand als Fünfjährige bei solchen Gruppenspielen oft zu wenig Raum für mich, tanzte aus der Reihe und wurde gerügt. Mein inneres Kind ist irritiert: »Was soll ich anderen von dieser Kita mitteilen?«
»Es ist eine Zumutung, ein nicht erprobtes Konzept unter so schwierigen Bedingungen zu erproben!« So meinte der Soziologe Hans-Joachim Laewen, von Infans Berlin, als sich diese Einrichtung aus dem schwäbischen Brennpunktviertel Neugereut 2002 als eine von acht Modellkitas aus Stuttgart bewarb, das von ihm mitentwickelte Konzept für die frühkindliche Bildung zu erproben. Für Uli Simon aber, Abteilungsleiter im Jugendamt Stuttgart, war genau das die Reifeprüfung. »Ob ein Ansatz etwas taugt, zeigt sich doch gerade darin, ob er hilft, auch jenen Kindern, die mehrsprachig aufwachsen, eine gute Bildungsperspektive zu eröffnen.« Deshalb wollte das Jugendamt dieses Bildungskonzept in Brennpunktvierteln ebenso angewendet wissen wie in den Einrichtungen in den Stuttgarter Hanglagen, in die privilegierte Schichten ihre Kinder schicken. Auch im Gemeinderat der Autobauerstadt ist man sich inzwischen einig darüber, dass ein gut ausgebildeter Fachkräftenachwuchs eine frühe Förderung für alle von Anfang an braucht und beginnt seine Kinderpolitik darauf auszurichten. Worin die Anforderung liegt, brachte eine statistische Erhebung hervor: Allein 57 Prozent der Mädchen und Jungen in den Stuttgarter Kindertagesstätten sind nichtdeutscher Herkunft. Viele Familien ziehen ihre Kinder unter schwierigen sozialen Umständen beispielsweise mit mehreren prekären Teilzeitjobs auf und müssen bei der Wahrnehmung und Bildung ihrer Kinder unterstützt werden. In der Kita Wildgansweg in einen Wohngebiet mit 20 Kulturen, in der 30 Kinder von anderthalb bis sechs Jahren und 43 von sechs bis 14 Jahren lernen, wachsen deutlich über 60 Prozent der Mädchen und Jungen in zweisprachigen Familien auf.
Andrea Pigisch, der Leiterin der Einrichtung, widerstrebte es bereits in ihrem Anerkennungsjahr Ende der 80er Jahre, die Kinder als Gruppe zu bespielen und mit Angeboten zu überschütten. Sie suchte nach Wegen, jedes mit seiner Besonderheit anzusprechen. Ein Jahrzehnt später gewöhnte sie die Neuankömmlinge in ihrer Einrichtung mit dem Infans-Konzept ein, dass auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder schaut. Darin fand sie ein Bild vom konstruierenden, lernenden Kind, das ihr gefiel. Mit diesem Berliner Institut wollte sie ihre Kita verändern und sie gewann all ihre Kolleginnen und Kollegen dafür, sich als Modellkita zu bewerben. Als Einsteins Erben waren die Erzieherinnen und Erzieher bereit zu lernen, wie sie Bildungsprozesse bei den Kindern beobachten, herausfordern und begleiten können.
»Wieso seid ihr nicht mit den Räumen weiter? Warum entdeckt man bei euch keine Lerninseln von kleinen Projekten der Kinder?« fragten neun Monate nach Prozessbeginn die Infans-Mitarbeiter, um dann zu merken: Die Kollegen haben ihren Rhythmus, brauchen ihre Zeit, um zu den ihnen passenden Veränderungen zu gelangen. »Was nützt es, wenn wir einfach kopieren, was wir in anderen Einrichtungen sehen und auch mir imponiert?« erwidert Andrea Pigisch den Fortbildnern damals wie auch mir jetzt. Sie hält diese Vergleiche zwischen den Teams für ähnlich fatal wie die bewertende Wahrnehmung der Kinder in der traditionellen Pädagogik. Da hieß es oft vorschnell, ein Kind kann nichts, weil es eine andere Entwicklung als die vermeintlichen Vorbilder nahm und wurde auf seine Defizite festgelegt. »Wir wollen ein Ort für die Kinder aus unserem Viertel sein. Also müssen wir gemeinsam das Konzept mit Leben erfüllen. Deshalb suchen wir nach unseren Wegen, uns auf diese Bildungsarbeit einzulassen. Das braucht Geduld!« ist die engagierte, suchende Frau überzeugt.
Viele der Mitarbeiter sind bereits 15 Jahre und mehr im Beruf und gewohnt, dass sie den Kindern Lernangebote unterbreiten und den Ton dabei angeben. Oftmals war ihnen gar nicht bewusst, wenn ihnen ein reglementierendes »Das tun wir hier nicht« über die Lippen rutschte. Und sie reflektierten es auch nicht, woher es kam und was es bei einem Kind möglicherweise auslöste. Das Gespräch darüber begannen die Kollegen, nachdem sie sich ein Video über den Alltag in ihrer Kita angeschaut hatten. Eine Sequenz zeigte eine Erzieherin, die ein Kind mit einem strengen »Lass das!« stoppte, welches rückwärts die Rutsche hinunter glitt. »Warum löst ein solcher Moment bei mir Angst aus und wie kann ich das dem Kind authentisch mitteilen? Wie kann ich für mein Gefühl und die Sicherheit des Kindes gleichzeitig sorgen und ihm doch erlauben, seinem Bewegungsimpulsen zu folgen?«, debattierten die Erzieherinnen und Erzieher und erzählten einander von ihrer Kindheit. Die Kitaleiterin spielte als Teenager nie gerne wie andere Mädchen Hübschmachen und Verkleiden, liebte es vielmehr zu handwerken oder Fußball zu spielen. Diese Vorlieben erhielt sie sich bis heute. »Wie können wir diese Verschiedenheit von uns Erziehern wahrnehmen, zulassen und nutzen?«
Dieses Nachdenken war der erste Schritt in der Auseinandersetzung miteinander, der beim Infans-Bildungskonzept zu der Beobachtung der Kinder dazu gehört. Er brachte den Pädagogen die Erkenntnis: »Es hat vor allem mit mir etwas zu tun, was ich wahrnehme und wie ich reagiere, nicht zuerst mit dem Kind!« Zugleich müssen in einem Team diese verschiedenen Sichten auch wieder zusammen fließen. Deshalb schickte Andrea Pigisch ihre Kollegen bei einer Teamsitzung mit einer Pappscheibe mit einem kleinen rechteckigen Loch durch das Haus – als Sinnbild für ihre individuelle Betrachtungsweise. Anschließend sammelten sie ihre Schnappschüsse im Kreis und fügten sie zu einem Bild zusammen: »Was habe ich wo gesehen? Was daran hat mich überrascht? Wo sah ich das zuvor? Was hat die Beobachtung leicht, was schwer gemacht?« Andrea Pigisch sieht sich als Leiterin und Fortbildnerin in einer ähnlichen Rolle wie ihre Kollegen gegenüber den Kindern. Sie kann nicht deren Lernen »machen«. Aber Situationen schaffen, in denen sie zu neuen Erkenntnissen kommen. Und plötzlich war dem Team klar: Jede von ihnen kann nur einen minimalen Ausschnitt vom Geschehen festhalten. Dabei bringt jede und jeder ihre und seine Sicht ein. Vollständiger wird das Bild erst, wenn sie sich über ihre Eindrücke austauschen und einen Weg finden, die verschiedenen Sichten zuzulassen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/07 lesen.