Erfahrungen des Projekts »Demokratie leben«
Was können Kitas dafür tun, damit Kinder frühzeitig lernen, anderen auf einer Ebene des Respekts und der Gleichwürdigkeit zu begegnen, sensibel und verantwortungsvoll mit sich und anderen Menschen umzugehen und ihre Anliegen und Interessen mit anderen auszuhandeln?
Evelyne Höhme-Serke, Ellen Behring und Sabine Beyersdorff berichten über den Verlauf des Projekts.
Im Eberswalder Projekt »Demokratie leben«1 gingen Erzieherinnen und Kitaleiterinnen aus den Landkreisen Barnim und Uckermark dieser Frage nach. Sie hinterfragten ihre pädagogische Praxis, ihr Verhalten gegenüber Kindern, ihr Bild vom Kind, ihre Rolle als Pädagoginnen, entwickelten neue Formen des Umgangs mit den Kindern, Eltern und auch miteinander. Die Erzieherinnen trugen somit zu Bedingungen des Aufwachsens für Kinder bei, die Kindern Erfahrungen ermöglichen,
- dass als Persönlichkeiten wertgeschätzt werden;
- dass ihre Bedürfnisse, Interessen und Sichtweisen respektiert werden;
- dass sie über sich selbst bestimmen können;
- dass sie in den Angelegenheiten, die sie betreffen, mitentscheiden und mitbestimmen können.
Wenn Kinder diese Erfahrungen machen, wachsen sie gleichsam in eine demokratische Alltagskultur hinein. Denn wir können Kindern demokratische Verhaltenweisen nicht beibringen; Kinder lernen Demokratie, indem sie Demokratie erleben.
Dies alles ist jedoch auch in einer demokratischen Gesellschaft nicht selbstverständlich. Kindern diese Erfahrungen zu ermöglichen, bedeutet, dass Erwachsene sich auf Veränderungsprozesse einlassen, die ihre gesamte Persönlichkeit einbeziehen. Um diese Herausforderungen annehmen zu können, müssen Erwachsene selbst das erfahren, was für die Kinder gilt. Im Projekt »Demokratie leben« haben wir nach fünf Prinzipien gearbeitet, die für alle Beteiligten gelten: für die Kinder, die Eltern, die Pädagoginnen und für das Projektteam.
Die fünf Prinzipen wollen wir nun vorstellen: Autonomie, Partizipation, Kompetenzorientierung, Anerkennung und Prozessorientierung. Anhand dieser Prinzipien zeigen wir auf, was sie auf drei verschiedenen Ebenen bedeuten:
- in der pädagogischen Praxis (im Erleben der Kinder und in der Zusammenarbeit mit Eltern);
- in Bezug darauf, was die Erzieherin dafür leisten muss;
- was das Projekt dafür getan hat.
Autonomie
Mittagessen in der Krippe. Einjährige tun sich das Essen selbst auf. Sie entscheiden selbst, wie viele Kartoffeln sie nehmen möchten und ob sie den Broccoli mögen oder nicht. Sie probieren selbst aus, was ihnen schmeckt. Die Erzieherin bietet die Speisen an, aber die Kinder entscheiden, ob sie das Angebot annehmen oder nicht. Die Erzieherin überredet sie nicht dazu, etwas zu probieren. Sie übt keinen Druck aus, selbst wenn das Auftun eine Weile dauert. Es ist auch nicht schlimm, wenn etwas danebengeht.
Demokratie beginnt damit, ein Gefühl für sich selbst und den Zugang zu eigenen Bedürfnissen zu haben. Die Erfahrung von Autonomie ist dabei grundlegend für die Entwicklung des Kindes und die Entfaltung seiner Persönlichkeit. Kinder können nicht früh genug damit anfangen, ein Gefühl dafür zu bekommen, was sie wollen und was sie brauchen.
Autonomie ist ein menschliches Grundbedürfnis. Es ist jedoch nicht mit Freiheit oder Autarkie gleichzusetzen. Denn das Grundbedürfnis nach Bindung ist genauso elementar für uns Menschen. Autonomie ist also nur in Abhängigkeit von anderen zu denken.
In Bezug auf elementare körperliche Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken sind Autonomieerfahrungen von großer Bedeutung. Kinder sollten die Möglichkeit haben, zu essen und trinken, wann immer sie Hunger und Durst haben. Sie sollten so viel (oder so wenig) essen und trinken, wie ihrem Bedürfnis entspricht. Und sie sollten wählen können, was sie essen und trinken wollen. Selbstverständlich ist auch wichtig, dass Kinder die Erfahrung machen, in der Gemeinschaft eine Esskultur zu pflegen. Hier wird deutlich, dass Autonomie mit Verbundenheit zusammenhängt.
Was mussten die Erzieherinnen lernen, damit die Kinder dies erfahren?
Kindern Autonomie zuzuerkennen erfordert bei Erwachsenen eine entsprechende Haltung. Um zu dieser Haltung zu gelangen, müssen sie sich mit ihren eigenen Überzeugungen, ihren Erfahrungen und den damit verbundenen Gefühlen auseinandersetzen.
Wir haben festgestellt, dass vor allem die elementaren Autonomiethemen »Essen« und »Schlafen« eine große Herausforderung für Erzieherinnen darstellen. Zum großen Teil liegt das unserer Meinung nach daran, dass die meisten Erwachsenen selbst wenig eigene Erfahrungen damit gemacht haben, dass ihnen Autonomie zuerkannt wurde. Wann immer wir mit Erzieherinnen über ihre eigene Kindergartenzeit sprachen, wurden als negative Erfahrungen der Zwang zum Essen und Schlafen genannt. Aufgrund dieser eigenen Mangelerfahrungen kann es passieren, dass Erwachsene Autonomiebedürfnisse von Kindern gar nicht wahrnehmen. Es entsteht so eine Diskrepanz zwischen dem eigenen Erleben und dem Anspruch, Kindern Autonomie zuzuerkennen. Wenn dies nicht problematisiert wird, dann wird es in Kitas so gemacht, wie es immer schon war, dann werden Prinzipien durchgesetzt, dann werden Kinder zum Funktionieren angehalten.
Die Herausforderung besteht für Erzieherinnen darin, sich von Althergebrachtem, von Selbstverständlichem, von angeblichen Sachzwängen zu lösen und zu lernen, die Bedürfnisse der einzelnen Mädchen und Jungen herauszufinden. Voraussetzung dafür ist, dass sie einen Zugang zu sich selbst bekommen und lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen.
Sie können sich sicher vorstellen, dass viele Eltern vor allem von sehr jungen Kindern nicht verstehen, wozu es gut sein soll, dass sie über das bestimmen, was auf ihrem Teller ist. Die Eltern befürchten vielleicht auch, dass ihre Kinder zu wenig, zu viel, immer das Gleiche essen. Hier müssen die Erzieherinnen bereit und in der Lage sein, die Eltern mit ihren Befürchtungen und Einwänden ernst zu nehmen und mit ihnen über diese Dinge zu sprechen.
Wie haben wir den Lernprozess gestaltet?
Wenn Erzieherinnen Kindern Erfahrungen von Autonomie ermöglichen sollen, müssen sie selbst Autonomie erfahren. Für uns, das Projektteam, hieß das, dass wir akzeptierten: Die Interessen und die Bereitschaft der Beteiligten am Projekt sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Jede Beteiligte bestimmt für sich selbst, in welcher Weise und Intensität sie sich einbringt. In Workshops führten wir häufig Übungen (zum Beispiel zur Reflexion) durch. Dabei betonten wir immer, dass die aktive Teilnahme freiwillig ist. Es gibt viele Wege, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen: durch Zuhören, Zuschauen, Nachdenken. Eine Auseinandersetzung muss nicht immer von außen sichtbar sein. Wir haben die Erfahrung gemacht: Je mehr Freiheit die Beteiligten hatten, selbst zu bestimmen, desto weniger Widerstand erlebten wir.
Unsere zugrunde liegende Haltung war: Wir stellen Informationen, Methoden, unsere Professionalität und uns selbst als Personen zur Verfügung, um die Bedingungen für einen wirksamen Lernprozess zu ermöglichen. Was jede Beteiligte daraus macht, wie sie es nutzt, das kann nur sie selbst entscheiden.
Dabei geht es auch immer darum, eine Balance zwischen Freiwilligkeit und Verbindlichkeit herstellen. Grundsätzlich musste sich keine Beteiligte dafür rechtfertigen, warum sie sich zurückhält. Manchmal war es aber notwendig, die Gründe zu erfahren, so dass andere sie nachvollziehen konnten. Denn alles, was die einzelnen Beteiligten tun und lassen, wirkt sich auf die Gruppe aus. Selbstbestimmung ist eben nicht ohne Verantwortung für das ganze System zu denken.
Eine weitere Autonomieerfahrung war: Jede Sichtweise ist wertvoll. Eine Diskussion über ein Thema begannen wir häufig mit einer ersten Runde: »Meine Welt benennen«. Jede Beteiligte brachte ihre Sichtweise, ihre subjektiven Erfahrungen, ihre Gefühle zum Ausdruck. In der Runde wurden die Äußerungen nicht diskutiert, nicht kommentiert und nicht bewertet. Die Erfahrung von Autonomie bedeutet hier, den Raum zu haben, sich ohne Bewertungen und Beschränkungen durch andere mit dem eigenen Standpunkt zu zeigen.
Unsere Vorgehensweise ist ein auch Modell für den Umgang mit den Kindern. Doch geschieht der Transfer vom eigenen Erleben auf die Ebene des pädagogischen Handelns nicht automatisch. Daher gingen wir immer wieder auf die Meta-Ebene und fragten nach dem Erleben, nach dem »pädagogischen Hintergedanken«. Und wir überlegten, wie es möglich ist, diese eigenen Erfahrungen so umzusetzen, dass sie auch für die Kinder möglich sind.
Partizipation
Im Kindergarten werden Regeln ausgehandelt. Der Anlass dafür ist folgende Situation: Es ist Mittagsschlafzeit. Im Raum gibt es zwei Lieblingsplätze unter der Hochebene. Die Erzieherin beobachtet eine Weile, dass die Kinder sich jedes Mal um diese Plätze streiten. Bei der nächsten Gelegenheit spricht sie dies in der Besprechungsrunde an. Diese Runden finden regelmäßig, aber auch anlassbezogen statt. Die Kinder holen sich dazu ihre Sitzkissen und setzen sich im Kreis auf den Boden.
Zunächst beschreibt die Erzieherin die Situation. Dann fragt sie die Kinder, wie sie die Situation sehen und wie sie sich dabei fühlen. Die Kinder sprechen über die Schwierigkeit, ihre verschiedenen Interessen unter einen Hut zu bringen. Daraufhin fragt die Erzieherin die Kinder, welche Ideen sie haben, das Problem zu lösen. Die Kinder machen verschiedene Vorschläge: einen Abzählreim, eine Liste… Die Erzieherin schreibt die Vorschläge auf. Da die Kinder noch nicht lesen und schreiben können, bittet die Erzieherin die Kinder, ein Symbol für jede Idee neben das Geschriebene zu malen. Die Kinder können sich noch nicht entscheiden. Vieles spricht für oder gegen die verschiedenen Vorschläge. Die Erzieherin macht den Vorschlag, die verschiedenen Ideen in den nächsten Tagen auszuprobieren.
Nachdem alle Varianten ausprobiert wurden, setzen sich die Kinder und die Erzieherin in einer erneuten Runde zusammen. Die Erzieherin fragt die Kinder, wie sie die verschiedenen Lösungen erlebt haben. Die Kinder erzählen ausführlich. Dabei achtet die Erzieherin darauf, dass die vor einer Weile aufgestellten Gesprächsregeln eingehalten werden: Jedes Kind, das will, kann sich äußern. Alle hören aufmerksam zu. Dies wird durch einen Redestein erleichtert.
Nun kommt es zur Entscheidung. Die Kinder werden gebeten, auf dem Bogen mit den notierten und gemalten Ideen einen Punkt an die Idee zu kleben, der sie zustimmen. Dies ist eine Mehrheitsentscheidung. Die höhere Schule wäre eine Entscheidung, bei der so lange verhandelt wird, bis ein Konsens zustande kommt.
Am Schluss schreibt die Erzieherin die Regel auf, die die Kinder zusammen formulieren. Sie achtet darauf, den Wortlaut der Kinder genau aufzuschreiben. Um sicherzugehen, liest sie das Geschriebene vor und korrigiert es, wenn die Kinder nicht einverstanden sind.
1 Das Projekt »Demokratie leben« hatte eine sechsjährige Laufzeit (von 2002 bis 2007). Es wurde von der Bernard van Leer-Foundation und der Lindenstiftung finanziert. Finanzielle Unterstützung erhielt das Projekt auch von der Stadt Eberswalde, vom Landkreis Barnim, dem Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport Brandenburg und der Bürgerstiftung Barnim-Uckermark. Träger des Projektes waren das Institut für den Situationsansatz (ISTA) der Internationalen Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin und die RAA (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie) Berlin.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/08 lesen.