Zwei Sichten auf eine Situation
Deren Menschen in ein und derselben Situation befinden. Wir sind es gewohnt zu meinen: Genau so sei es gewesen. Dabei kann es für unser Gegenüber ganz anders gewesen sein, gleich ob sie als unsere Partner, Freunde, Kollegen oder Kinder den Alltag mit uns teilen.
Mit der Serie »Perspektivwechsel« unternehmen wir den Versuch, ein Stück Weg in den Schuhen von wenigstens zwei Menschen mitzulaufen. Wir betrachten eine Situation aus verschiedenen Augen und legen die Bilder offen. Für kleine Alltagsbewegenheiten wagen wir zu sagen: So könnte sie die eine, so die andere Person erlebt haben. Die Geschichten dabei sind erfunden. Die Auslöser sind es nicht.
Besonders schwierig dabei zu erahnen, wie die Mädchen und Jungen den Moment erlebt haben mögen, Kinder vor allem, die darüber noch nicht oder kaum reden können. Uns geht es dabei nicht darum, zu behaupten, genau so müsse es gewesen sein. Viel wichtiger ist es uns, Sie zu einem Perspektivwechsel einzuladen und zu dem Gedanken ermutigen: Es könnte auch ganz anders gewesen sein.
Barbara Leitner
Abgemacht
Wenn ich an das Frühstück heute Morgen denke, werde ich sofort wieder unruhig. Meine Tochter Luisa wollte mir erzählen, was sie mit Papa an dem freien Tag vorhat. Munter plapperte sie los und zeigte auf den Läufer in der Küche, auf den sie schon die Tiere aus ihrem Bauernhof ausgeschüttet hatte. Normalerweise höre ich da auch zu und wenn ich gut drauf bin, spiele ich auch mit. Da ich aber nach dem Frühstück aus dem Haus musste, wollte ich unbedingt den Verkehrsfunk im Radio hören. Eine Minute lang. Das sagte ich der Vierjährigen. Sie weiß schon, wie kurz eine Minute ist. Wenn ich mich beim Einparken so lang konzentrieren muss, schafft sie es auch, so lang ihr Geplapper zu unterbrechen. Also handelte ich mit ihr aus, diesen Moment still zu sein.
»Abgemacht?«, fragte ich sie noch und versprach ihr, danach das Radio sofort auszuschalten, ihr zuzuhören und schaute sie dabei fest an. Doch da begann sie bereits ihr Spiel. Sie griff nach dem Löffel und hielt ihn sich wie ein Mikrophon vor die Nase und sang irgendwas. Verschmitzt lächelnd drehte sie mir den Kopf zu, als wollte sie mich provozierend fragen: »Was sagst du nun?« Mir war nicht nach Spaß. Ich wollte wissen, ob die Stadtautobahn frei ist oder ob ich zehn Minuten früher losfahren sollte, um pünktlich bei meinem Seminar zu sein. »Ruhe!«, schrie ich einmal kurz. Das Lied aus Luisas Mund erstarb. Dafür matschte sie nun mit dem Müsli auf den Tisch und zog alberne Grimassen. Ich spürte förmlich wie mein Gesicht erstarrte. Meine morgendliche Freude war dahin. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Dabei kam es mir vor, als nagelte mich Luisa mit ihrem Blick fest. »Das wäre doch gelacht, wenn ich meine Mutter nicht explodieren sähe«, schien sie zu frohlocken. So gut kannte auch sie mich aus den zurückliegenden 50 Monaten, dass sie genau wusste, dass hier mein Knackpunkt erreicht ist, an dem sie mich hoch gehen sieht. Doch ich konnte nicht mal losmeckern. Gern hätte ich vom Gesicht meines Mannes abgelesen, was hier los ist. Das aber war schon längst hinter der Zeitung verschwunden. Satzbrocken drangen aus dem Radio zu mir »Wird der Verkehr umgeleitet.« In mir aber kreiselte ein Gedanke: »Woher hat das Kind bloß diese Destruktivität, es so auf den Ärger mit mir anzulegen? Genießt sie es vielleicht, wenn ich die Beherrschung verliere?« Ich wollte irgendwas tun, griff nach dem Putzlappen und hielt mich daran fest, bis ich merkte, dass ich nur Luisas Modderpampe auf dem Tisch verschmierte. In Erziehungsratgebern steht an dieser Stelle immer »Kinder brauchen Grenzen!«. Ich war an meiner angelangt. Zum Glück musste ich los. Zu meinem Seminar kam ich überpünktlich. Alle Straßen waren an dem Sonnabendvormittag frei.
Wie nur find ich Mama?
Heute war ich nicht im Kindergarten. Ich hatte einen freien Tag mit Papa und ich wollte mit ihm Bauernhof spielen. Schon vor dem Frühstück räumten wir zusammen den Korb mit den Tieren in die Küche. Mama hatte unterdessen den Frühstückstisch gedeckt und mir Müsli und Milch in einen Schüssel geschüttet. Nach ein paar Happen passte gar nichts mehr in meinen Bauch. Mama will immer, dass ich trotzdem sitzen bleibe, bis alle fertig sind. Ich rührte mit dem Löffel in dem Brei und drehte den Kopf wie ein Brummkreisel hin und her. Dabei entdeckte ich, dass der Läufer in der Küche ein prima Muster für meinen Bauernhof hat. Da liegt die grüne Koppel für die Pferde gleich neben der gepunkteten Wiese für meine Meerschweine. Und auf dem braunen Fleck kann ich den Stall aufbauen. Das erzählte ich Mama. Sie konnte nicht mitspielen, weil sie weg musste. Ich war traurig, weil ich mit ihr gerne spiele. Manchmal wiehert sie so wie ein Pferd und klopft mit ihren Fingern den Galopp. Das macht mir Spaß. Papa will nicht Pferd oder Meerschwein sein. Er baut die Ställe mit auf und liest dann seine Zeitung. Ich fragte gerade nach einer Möhre für die Tiere, da begann Mama von etwas ganz anderen zu reden. Irgendwas über das Auto. »Abgemacht«, sagte sie und ihre Augen trafen meine für einen kleinen Moment. Ich aber sah mich bereits die Tiere über den Teppich treiben, dirigierte sie mit meinem Löffel hin und her und erzählte weiter.
Da verwandelte sich Mama in eine ganz andere Person. Sie sah plötzlich aus wie der böse Zauberer aus dem Märchen, mit spitzem Gesicht und Augen wie Striche. Ihn mag ich nicht. Deshalb wollte ich ihn vertreiben. »Wenn ich lustig bin«, kam mir in den Sinn, »kommt meine Mama wieder zurück.« Deshalb nahm ich dem Löffel wie ein Mikrofon zur Hand, schunkelte auf meinem Platz hin und her und spitzte die Lippen beim Singen. Das mach ich manchmal vor dem Fernseher. Mama lacht dann immer und ihre Augen glitzern dabei wie Edelsteine. Das ist schön. Jetzt aber schrie sie los. Ich erschrak und wäre am liebsten unter den Tisch gerutscht. »Was kann ich nur tun, damit alles wieder gut wird, ich meine allerliebste Mama wiederkriege?«, dachte ich. Ich wollte, dass sie mir zuhört, mich anschaut und bei mir ist. Mir fiel nichts ein. Ich war durcheinander und wusste gar nicht, was ich machen könnte. Meinen Händen ging es auch so. Sie griffen in das Müsli und als das durch meine Finger quoll, fühlte sich das gut an, warm und kuschlig. Bisschen so, wie wenn Mama mich streichelt. Ich lächelte sie an, wollte, dass sie mit mir Pferd spielt und wiehert, galoppiert und schnalzt. Mama aber stand am Küchentisch und war doch ganz weit weg. Weiter fuhr sie mit dem Auto auch nicht fort.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/09 lesen.