Beobachtungen im Bewegungsraum
Zu Beginn meiner Beobachtung sah ich Tara im Schaukeltuch. Sie nahm Anlauf und schwang weich und anmutig vor und zurück. Wenn ihre Füße vom Boden abhoben, schmiegte sich das Tuch um ihren Bauch, ihre Arme und Beine hingen über den Rand des Tuchs. Schaukelte sie, schien sie eins mit dem Tuch zu sein.
Schaukeln ist Nahrung fürs Gehirn. Seit Reinhard Kahl, der engagierte Bildungsjournalist, Anfang der 1990er Jahre in seinem Film »Vom Schwinden der Sinne« unter anderem die Bedeutung des Schaukelns für das Denken und Lernen mit eindrucksvollen Beispielen aus dem schulischen Leben in Hamburg belegte, ist mir der Wert dieser »Nahrungsquelle« unvergessen.
Jetzt nähert sich Mona, 22 Monate alt, der Schaukel. Sie steigt mit einem Fuß in das Tuch. Als sie den zweiten Fuß nachziehen will, merkt sie, dass das nicht so einfach ist, denn es gibt nichts zum Festhalten. Schließlich schafft sie es, ganz im Tuch zu verschwinden. Das Tuch wackelt, beult sich hier und da aus, manchmal erscheint eine Hand, ein Fuß oder Monas Haarschopf. Es sieht aus, als wolle ein Fisch sich aus dem Netz befreien.
Am liebsten würde ich Mona zu Hilfe eilen. Doch ich erinnere mich, dass ich schon oft über ihr sicheres Körpergefühl staunte, und bleibe sitzen. Wenn sie mich braucht, kann sie ja rufen oder irgendeinen Laut von sich geben.
Gern würde ich jetzt wissen, was da im Tuch vor sich geht, obwohl ich es ohnehin nicht fotografieren könnte. Es sieht aus, als wolle sie aufstehen und vollends auf den Rest jeder Stabilität verzichten. Bewusst oder intuitiv?
Schließlich habe ich den Eindruck, Mona versuche, auszusteigen. Findet sie bei all den Falten die Öffnung? Plötzlich schaut sie heraus und umher. Stimmt! Sie konnte ja die ganze Zeit nichts sehen und muss sich erst mal orientieren. Ein Bein wird sichtbar. Es reicht aber nicht bis zum Boden. Also verschwindet es wieder.
Mona will raus, das merke ich jetzt deutlich. Sie greift auf eine ihrer Stärken zurück: geschicktes Fallen. Wieder streckt sie ein Bein heraus, der Po folgt, und sie lässt sich fallen. Der zweite Fuß bleibt oben im Tuch hängen. Sie muss ihn – jetzt auf dem Boden liegend – nur noch aushaken. Zufrieden lächelnd läuft sie davon. Das ist alles.
An diesem Tag kehrt sie noch einmal zum Tuch zurück, um einzusteigen, aufzustehen und auszusteigen. Dieser Versuch verläuft weniger dramatisch und währt viel kürzer. Das Schaukeln in der gewohnten Form fand allerdings überhaupt nicht statt.
Was genau suchte Mona? Ich versetze mich in ihre Situation und überlege: Was gibt es mir? Welche Intention wird im Spiel- und Bewegungsraum mit dem Tuch verfolgt?
Andrea von Gosen gibt mir Hinweise:
- Ich hülle mich ein.
- Ich spüre eine zweite Haut.
- Ich finde eine Behausung, die meine Sicht allerdings einschränkt.
- Ich fordere meinen Gleichgewichtssinn heraus.
- Ich gehe bis an meine (derzeitigen) Grenzen.
- Ich begrenze meinen Körper und kann diese Grenze auflösen.
- Ich übe Druck aus und spüre Gegendruck.
- Ich bewirke (und bestimme damit) selbst, was mit mir passiert.
- Ich sammle Erfahrungen (auch physikalischer Art).
- Ich lerne meinen Körper und mein Können neu kennen.
- Ich kann etwas ausprobieren, etwas wagen und mich dabei sicher aufgehoben fühlen.
- All das macht mich stark!
Warum ist Schaukeln so wichtig?
Schaukeln fördert unseren Gleichgewichtssinn im besonderen Maße. Mit dem Tastsinn (taktiles System) und dem Lagesinn (propriozeptives System) stellen diese drei Basissinne das Fundament unseres Körpers dar.
Wissenschaftlich ist bewiesen, dass durch Schaukeln Anreize im Gehirn geschaffen werden, sich weiter zu strukturieren. Damit wird die schnellere Verarbeitung unterschiedlicher Sinneseindrücke ermöglicht.
Wir benutzen die Basissinne täglich – beim Lernen ebenso wie in Situationen, in denen wir nur reflexartig reagieren können. Dann müssen die Sinne nämlich gut miteinander funktionieren. Ein Beispiel ist das Radfahren: Experten wissen, dass Kinder umso sicherer Rad fahren, je mehr sie vorher ihr Gleichgewicht trainiert haben.
Anna Wieber
Kontakt
Andrea von Gosen ist SpielRaumleiterin, Beraterin und Pikler-Dozentin.
www.pikler-spielraum.de