In diesem Jahr erscheint im verlag das netz das Buch »Didaktik in der frühen Kindheit. Von Reggio lernen und weiterdenken« von Gerd E. Schäfer und Angelika von der Beek. Mit Angelika von der Beek sprach Erika Berthold und wollte wissen, wie die Reggio-Pädagogik die »Didaktik der frühen Kindheit« beeinflusste und was es mit dieser Didaktik auf sich hat.
Wann hörten Sie zum ersten Mal von Reggio?
Das war 1985. Damals fiel mir ein Heft in die Hände, das einen langen Titel trug: »Das Auge schläft, bis der Geist es mit einer Frage weckt«. Der Inhalt war für mich so neu und überraschend, dass ich nach der Lektüre die größte Lust hatte, nach Reggio zu fahren. Aber das war nicht so einfach, weil ich als Fachberaterin für kommunale Kindertagesstätten in Hamburg einen Vorgesetzen hatte, der meinte, Hamburg wäre ein so guter Ort für Kitas, dass man nicht ins Ausland fahren müsse, um sich dort umzusehen.
Sie waren anderer Meinung?
Ja. Ich fand, dass es in Hamburg – bis auf eine kleine Einrichtung für sprachbehinderte Kinder mit einer sehr engagierten Leitung – damals keine Kita gab, in die ich mein Kind geschickt hätte.
Von dem Vorgesetzen abgesehen – es war auch deshalb schwierig, die Reise zu unternehmen, weil ich nicht allein fahren, sondern Kita-Leiterinnen aus Hamburg mitnehmen wollte, damit wir die Erfahrung teilen können. Da wir alle nicht genügend Geld für so eine Reise hatten, mobilisierte ich die Gewerkschaft, beantragte Bildungsurlaub, so dass wir Zeit und sogar einen Zuschuss bekamen, weil die Reise unter »Politische Bildung« fiel.
Mit 15 Kita-Leiterinnen machte ich mich auf den Weg. Das, was wir in den fünf Tagen erlebten, war unglaublich inspirierend. Franziska Grosser-Stöppler drehte einen Film, der sich später als Multiplikationsinstrument hervorragend bewährte. Außerdem machten wir Hunderte Fotos. Schon auf der Rückreise planten die Leiterinnen, was sie in ihren Kitas verändern würden.
Was hatte Sie und Ihre Mitreisenden so beeindruckt?
Erstens: der ästhetische Eindruck. Es handelte sich um so schöne Kindertagesstätten, wie wir sie noch nie gesehen hatten. Sie waren auf eine Art ausgestattet, die so animierend war, dass wir dachten: Hier kann man sich als Kind nur rundherum wohl und inspiriert fühlen, etwas zu tun.
Zweitens: In diesen fünf Tagen waren wir keiner Erzieherin, keiner Pedagogista oder Atelierista begegnet, die nicht zufrieden wirkte. Das stand in eklatantem Gegensatz zu dem, was ich damals in Hamburg erlebte. Als Fachberaterin hatte ich so viel mit der Bearbeitung von Klagen über Unzulänglichkeiten und Alltagsprobleme zu tun, dass ich es kaum fassen konnte, mit welcher Begeisterung uns die Frauen in Reggio von dem berichteten, was sie machten.
Drittens: die Einbettung der reggianischen Kindertagesstätten in die Gemeinde. Mir wurde erzählt, dass man jeden Einwohner Reggios nach den Kindertagesstätten fragen könne und dass jeder etwas darüber zu erzählen wisse. Ich hatte das bei einem Taxifahrer überprüft. Es stimmte. Warum? Loris Malaguzzi begriff die Betreuung in Kindertagesstätten von Anfang an nicht als isoliertes pädagogisches Vorhaben, sondern machte sie zu einem Thema der Gemeinde. Das zeitigte Folgen, nicht zuletzt für die finanzielle Ausstattung, die vergleichsweise gut war, weil der Gemeinderat eindeutige Prioritäten zugunsten der Kindergärten, eines pädagogischen Zentrums und der Aufrechterhaltung guter Rahmenbedingungen für die Erzieherinnen setzte. Von ihren 36 Wochenstunden konnten die Erzieherinnen sechs Stunden für Vorbereitung nutzen, zum Beispiel für die Dokumentation. Dies unterschied Reggio von Hamburg gewaltig.
Viertens: die enge Zusammenarbeit mit den Eltern. Viele Aktivitäten bezogen die Eltern in die Arbeit der Kindergärten ein, vor allem die Eingewöhnung. Die Dokumentationen, auf großen Tafeln nachvollziehbar präsentiert, zeigten den Eltern, was die Kinder während ihrer Abwesenheit gemacht hatten. Ungewöhnlich stark frequentierte Elternabende vertieften diese Bemühungen.
Fünftens: die enge Zusammenarbeit der reggianischen Pädagogen mit den Architekten. Schon bei unserem ersten Besuch begriffen wir: Der Raum ist der dritte Erzieher. Wenn man Architekten überlässt, die Räume zu konzipieren, dann kommt nichts pädagogisch Brauchbares heraus. Doch wenn die Architekten das pädagogische Konzept kennen und es in der Planung berücksichtigen, geben sie den Kindern und Erwachsenen schon allein durch die Architektur die Möglichkeit, gut miteinander kommunizieren zu können.
Wie auf dem Marktplatz in einer italienischen Kleinstadt.
Ja, die Piazza spielt eine wichtige Rolle. Man kann Kitas wie Straßendörfer bauen: ein Flur, rechts und links befinden sich die Gruppenräume, die Sanitärräume und das Büro der Leiterin. Man kann sie aber auch so bauen, dass es die Notwendigkeit gibt, einander zu treffen. Nämlich auf der Piazza, zu der hin sich alle Türen öffnen.
Man muss wissen, was man erreichen will, wenn man möchte, dass die Kinder nicht in den Gruppenräumen, sondern an einem zentralen Ort essen, der in enger Verbindung mit der Küche steht. Das Kinderrestaurant schafft Synergieeffekte: Es gibt kurze Wege, die Kommunikation der Kinder mit dem Küchenpersonal wird erleichtert.
Transparenz wird entweder architektonisch verwirklicht oder gar nicht. Deshalb gibt es große Fenster zur Küche und zum Atelier. Im Vorbeigehen kann man sehen, was in den jeweiligen Räumen passiert. Im Krippenbereich besteht Transparenz zwischen den Gruppen- und angrenzenden Sanitärräumen, so dass die Jüngsten ihre Bezugspersonen stets sehen und beobachten können, wie die Altersgefährten gewickelt werden oder mit Wasser spielen. Da die Kita keine feste Burg ist, kann jeder Bürger, der daran vorbeigeht, durch große Fenster hineinschauen und sich ein Bild machen.
Und die Kinder erleben: Wir werden nicht versteckt, sondern gehören dazu. Sie hatten die Begriffe Pedagogista und Atelierista verwendet. Würden Sie diese Begriffe bitte kurz erklären?
Der Begriff Pedagogista ist eine reggianische Erfindung und bezeichnet eine Kombination aus Vorgesetzten- und Beratungsfunktion. Die Pedagogista hat einerseits Leitungsaufgaben. Das hängt damit zusammen, dass es keine Vorgesetzten in den Einrichtungen gibt, sondern Teams aus zirka sechs Mitarbeiterinnen, einer Köchin und dem Reinigungspersonal, die sich selbst leiten.
Also Teamleitungen.
Ja. Die Pedagogista sitzt übrigens nicht in der Kita, sondern im pädagogischen Zentrum und ist zuständig für vier bis fünf Einrichtungen. Das heißt: Sie ist in erster Linie Fachberaterin und in zweiter Linie Vorgesetzte, muss also nicht ihre gesamte Zeit mit der Vorbereitung von Sommerfesten oder anderen Organisations- und Verwaltungsaufgaben verbringen. Dass sie für mehrere Kitas zuständig ist, hat den Vorzug der Distanz gegenüber der einzelnen Einrichtung, ermöglicht den Vergleich der Kitas und gestattet es, Synergieeffekte zu nutzen.
Für die inhaltliche Arbeit in den Ateliers waren und sind vor allem die Atelierista zuständig, Künstlerinnen oder Künstler, die an einer Hochschule in Reggio oder woanders ausgebildet wurden und als Nicht-Pädagogen eine Experten-Funktion haben. Im Gegensatz zu den Pedagogista sind sie vor Ort und haben einen Raum in den Einrichtungen für die Drei- bis Sechsjährigen, der von zentraler Bedeutung ist: das Atelier.
In den Krippen gibt es keine Atelierista. Aber jede Atelierista hat die Aufgabe, ein Mal in der Woche in eine Krippe zu gehen und mit den Jüngsten zu arbeiten. Im pädagogischen Zentrum treffen sich die Pedagogista und Atelierista regelmäßig, so dass es eine Zusammenarbeit auf der Ebene über den Kindertagesstätten gibt, die für Koordinierung sorgt und Qualität sichert.
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Gerd E. Schäfer · Angelika von der Beek
Didaktik in der frühen Kindheit
Von Reggio lernen und weiterdenken
verlag das netz, Weimar/Berlin 2013
ISBN 978-3-86892-085-7
ca. 220 Seiten
ca. Euro 28,-
Für eine Didaktik, die Selbsttätigkeit, Neugier und Kreativität junger Kinder unterstützt und herausfordert, ist die Reggio-Pädagogik das Modell, das theoretisch begründet und praktisch am differenziertesten ausgearbeitet wurde. Deshalb nehmen die Überlegungen zur Didaktik in der frühen Kindheit, die Gerd E. Schäfer und Angelika von der Beek in diesem Band veröffentlichen, bei der Reggio-Pädagogik ihren Ausgang.
Auf dieser Basis werden (kognitions-)wissenschaftliche Grundlagen für eine Didaktik der frühen Kindheit weiterentwickelt, und die Praxis wird konsequent an einer Pädagogik des Alltags orientiert. Jenseits der Projektarbeit werden sowohl die Grenzen altershomogener Gruppen- und Angebotspädagogik in Reggio deutlich als auch die Potenziale, die die Arbeit in Funktionsräumen in Deutschland bietet, wenn Wahrnehmende Beobachtung praxiswirksam einbezogen wird. Ziel ist eine partizipatorische Didaktik als Synthese zwischen Alltag und Projektarbeit.
Praktische Beispiele für Projektarbeit – aus dem Alltag zweier deutscher Kindertagesstätten – verdeutlichen die Rolle der Wahrnehmenden Beobachtung, der vorbereiteten Umgebung und vor allem die Rolle von Erzieherinnen, die sich für die »Hundert Sprachen« der Kinder begeistern.
Dies ist der zweite von drei Bänden, die sich mit den professionellen Grundlagen frühkindlicher Bildung beschäftigen. Der erste Band »Wahrnehmendes Beobachten«, veröffentlicht von Gerd E. Schäfer und Marjan Alemzadeh, beschäftigt sich mit der Professionalisierung der Alltagswahrnehmung von Erzieherinnen und Erziehern – der Kernaufgabe einer Pädagogik des Innehaltens und der Verständigung. Er erschien 2012 im verlag das netz.
Der dritte Band, der 2013 erscheint, widmet sich dem kulturellen Bereich des Naturwissens und verfolgt am Beispiel der »Lernwerkstatt Natur« in Mühlheim an der Ruhr, wie Erfahrungswissen von der Natur im Umgang mit Natur entsteht.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/13 lesen.