Ein sozialpräventives Projekt mit literaturtherapeutischem Ansatz
»Wie kommt ihr in die Familien rein?« fragen die Leute, wenn Angelika Nitschke und Carina Böhm, die Betreuerinnen aus der »Phantastischen Bibliothek«, das Projekt »Vorlesen in Familien« präsentieren. Bettina Twrsnick berichtet über das bisher einmalige Projekt.
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Vorleseprojekten in Deutschland legt das Wetzlarer Projekt seinen Schwerpunkt nicht auf Lese- und Sprachförderung oder die Verbesserung der kindlichen Sprech- und Lesefreude, sondern will das »Systems Familie« stärken und setzt damit an einer von Erzieherinnen und Lehrern beklagten Schwachstelle im gesamten Bildungsverlauf an: der mangelnden Bildungsmotivation von Eltern in »bildungsfernen« oder »bildungsbenachteiligten« Familien.
Wenn die Eltern ihre Kinder nicht unterstützen, können Bildungseinrichtungen wie Kita und Schule nur Symptome kurieren, werden aber keine Kinder entlassen, die der Forderung nach lebenslangem Lernen im 21. Jahrhundert sprach-, lese- und medienkompetent gewachsen sind. Deshalb entwickelte das Projekt »Vorlesen in Familien« ein deutlich soziales Profil mit dem Ziel: Die Eltern stärken, so dass sie ihre Kinder bildungsmotiviert unterstützen können. Dadurch sollen die Kinder entlastet werden, damit Fördermaßnahmen und -programme der Bildungsinstitutionen sinnvoll eingesetzt werden können.
Eltern, besonders alleinstehende Mütter, sind mit so vielen Problemen belastet, dass ihnen die Kraft und oft auch das Wissen fehlen, ihren Kindern motiviert zu helfen. Manche von ihnen ziehen sich dann zurück und nehmen Hilfsangebote von Organisationen oder Institutionen gar nicht mehr wahr.
Der Werdegang
Wie kommt nun die »Phantastische Bibliothek« zu der waghalsigen, anfangs sogar als fragwürdig bezeichneten Idee, in diesen Familien Bilderbücher vorzulesen und damit quasi »literaturtherapeutisch« wirken zu wollen?
Als die Bibliothek im Jahr 1989 gegründet wurde, um phantastische Literatur – von Märchen über Fantasy, Utopie und Horror bis zu Science Fiction – zu sammeln, sah man sich mit damals gängigen Vorurteilen wie »Flucht- und Schundliteratur« konfrontiert und beschritt deshalb den offensiven Weg der Vermittlung dieser publikumswirksamen Literatur an pädagogische Fachkräfte in Kindergarten, Schule und Universität. Diese Vermittlungsarbeit war so erfolgreich, dass die »Phantastische Bibliothek«, die inzwischen zur weltweit größten, öffentlich zugänglichen Sammlung aller phantastischen Genres avancierte, im Mai 2001 das »Zentrum für Literatur« gründete. Kooperationspartner waren die Staatlichen Schulämter der Region Mittelhessen.
Seitdem ist das »Zentrum für Literatur« für über 500 Schulen und ebenso viele Kitas zuständig und sieht seine Aufgabe in der Literaturvermittlung ebenso wie in der Lese- und Sprachförderung – unabhängig vom Sammlungsschwerpunkt »Phantastische Literatur«. Da der »PISA-Schock« noch wirkte, befanden sich die Bibliothekare plötzlich inmitten heftiger Diskussionen über die Sinnhaftigkeit von Konzepten, Projekten, Fördermaßnahmen, Screenings und Evaluierungen, die das offenkundig defizitäre deutsche Bildungswesen verändern wollen. Schnell wurde klar, dass Sprache und Kommunikation, Schreiben und Lesen wichtige Bestandteile der zur »Schlüsselkompetenz« gewordenen Literacy sind – ein Befund, der vor allem Bibliothekare nicht sonderlich überrascht.
Dass Sprache Mittel und Inhalt jeglicher Kommunikation und Wissensvermittlung ist, dass sprachliches Wissen schon weit vor dem Eintritt des Kindes in Kindergarten und Schule erworben werden muss – diese Erkenntnisse erfordern es, alle Lern- und Bildungsorte des Kindes in den Blick zu nehmen. Damit rückte auch die wichtige Rolle, die Eltern bei der Bildungsentwicklung ihrer Kinder spielen, in den Fokus.
Doch was passiert in den Familien, in denen Kindern nie vorgelesen wird? In denen Sprache und Schrift vernachlässigt werden? Was passiert mit den vielen Kindern – übrigens stammen sie nicht nur aus Migranten-Familien –, die mit signifikanten Sprachverzögerungen eingeschult werden, weil ihre Eltern zu der großen Anzahl sogenannter funktionaler Analphabeten gehören und selten auf Elternabenden anzutreffen sind?
Kontakt
Bettina Twrsnick, Angelika Nitschke
»Phantastische Bibliothek«
Wetzlar/Zentrum für Literatur
Turmstr. 20
35578 Wetzlar
Tel: 06441.4001.20
E-Mail:
www.phantastik.eu
Die »Phantastische Bibliothek« in Wetzlar verwaltet und pflegt die weltweit größte öffentlich zugängliche Sammlung phantastischer Literatur – Science Fiction, Fantasy, Utopien, Horror, Phantastik, Märchen, Sagen und Mythen, Reise- und Abenteuerliteratur – mit einem Buchbestand von mehr als 200.000 Titeln. Das Projekt »Vorlesen in Familien« setzt sich zum Ziel, Kinder aus der »PISA-Risikogruppe« zu fördern, deren Sprachentwicklung aufgrund der familiären Situation signifikante Verzögerung aufweist. Durchklicken über > Projekte > Vorlesen in Familien.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/13 lesen.