Man stelle sich einen Moment lang vor, es gäbe keine Schulen und wir müssten die Bildung neu erfinden. Ein Gedankenspiel mit dem Nullpunkt. Was wollen wir der nächsten Generation bieten? Und was würden wir von ihr verlangen? Was sollte gelernt werden und vor allem wie sollte gelernt werden? Wie lädt man sie in die Welt ein? Wie entwickeln Kinder und Jugendliche Haltungen? Wo sollte »Bildung« stattfinden? Wie stellen wir uns die Orte und Gelegenheiten dafür vor? Das Netzwerk »Archiv der Zukunft« lädt zum Austausch über diese und andere Fragen nach Bregenz ein.
Kurz dazwischen gefragt: Würden wir wirklich vorschlagen, einen so großen Anteil der Kindheit und Jugend sitzend, zuhörend und in geschlossenen Räumen zu verbringen?
Vielleicht betrachten wir das Aufwachsen zwischendurch mit den Augen eines Ethnologen als Initiationsritual! Aber Initiation in was? Nach kurzem wird jede Bildungsdebatte ein Selbstgespräch der Gesellschaft darüber wie wir leben wollen.
Das Gedankenspiel wäre eine Übung zur Horizonterweiterung, eine Übung, die neben Workshops, Foren und Vorträgen auf dem Kongress ihren Platz haben soll. Die Ideen werden gesammelt, dokumentiert und veröffentlicht. Der Kongress soll wirken! Nicht nur in die pädagogische Öffentlichkeit. Es ist insgesamt der fünfte Kongress des Netzwerks die drei Kongresse »theater träumt schule« nicht mitgezählt.
Weniger Nicken und mehr Brainstorming und Debatte
Wir wollen im Herbst in Bregenz der Verwirklichung unserer Ideen und Ansprüche näher kommen. Sagen wir es unverblümt: Weniger Predigt und mehr Sprechen und Denken. Weniger Nicken und mehr Brainstorming und Debatte. Weniger Erlösungshoffnungen und mehr Freude an den vielen Kultivierungen des Unvollkommenen.
Wie Odo Marquard sagte »Nicht Himmel auf Erden, sondern Erde auf Erden.« Pragmatisches und Utopisches sehen wir nicht als Gegensätze. Es kommt vielmehr darauf an beides zu mischen, eben: Orte und Horizonte.
Zum Beispiel solche Geschichten aufzuspüren und zu erzählen, wie die aus Osterholz Scharmbeck und Bürglen. Oder die an ein Wunder grenzende Geschichte der Bremer Gesamtschule Ost mit der Deutschen Kammerphilharmonie. Oder die Überlegungen von Peter Sloterdijk, der vorgeschlagen hat, sich von der Zwangsvorstellung einer Steuer als der »nehmenden Hand« des Staates zu lösen und sie mit dem Konzept der »gebenden Hand« der Bürger langsam abzulösen. Man könnte ja damit anfangen. Zum Beispiel mit absetzbaren Spenden und einer Selbstversteuerung von Erbschaften. Dafür ist eine Organisationsform zu entwickeln. Wichtiger wären wohl auch in diesem Fall die Nebenwirkungen. Wenn man seine »Gaben« selbst an Bildungseinrichtungen oder andere intergenerative Projekte adressierten kann, werden Bindungen und Verantwortungen entstehen. Die schreckliche Untermieterhaltung würde durch ihr Gegenteil unterminiert: durch die Souveränität der Handelnden.
Weniger Erlösungshoffnungen und mehr Freude am Kultivieren des Vollkommenen
Über die Notwendigkeit der gründlichen Erneuerung der Gesellschaft, also unserer Lebensweise, muss man nicht streiten. Dass es so nicht weitergehen kann, weiß inzwischen jedes Kind. Aber darauf entsteht noch keine Alternative. »Die Bildung« könnte ein großer Selbstversuch der Erneuerung sein und der Kongress selbst dabei eine kleine Mamuschka in dieser großen russischen Puppe.
Apropos Selbstversuch: Bei unserem kleineren Kongresswochenende im Februar in den Münchner Kammerspielen »Nichts ist egal« hat Michael Braungart sein »Cradle to Cradle« vorgetragen. Auch diesen Faden werden wir in Bregenz aufnehmen. Daraus eine kleine Ideenprobe: Bislang haben wir »Cradle to grave« produziert, von der Wiege zum Grabe, von der Natur zur Mülldeponie.
Es ist inzwischen eine Art Gemeingut, dass der Mensch schädlich sei und dass wir gefälligst unseren ökologischen Fußabdruck verkleinern sollten. Der Chemiker Michael Braungart widerspricht. »Es kommt nicht drauf an, den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, sondern ein Feuchtgebiet daraus zu machen.«
Braungart plädiert für den Abschied von den Erbsünden und Schuldtraditionen. Die Natur sei verschwenderisch und darin intelligent. Nicht maßlos. Zwei Kreisläufe sollte es geben. Einen, womit wir die Erde düngen und einen zweiten, geschlossenen technischen Kreislauf, mit dem wir sie verschonen.
Zum Beispiel hätte man doch den Impuls Eisverpackungen einfach weg zu schmeißen. Aber weil das Müll sei, erziehen wir uns und unsere Kinder dazu, sie zu entsorgen. Nun haben Braungart und seine Kollegen eine Verpackung entwickelt, die sich kompostiert und darüber hinaus seltene Blumensamen enthält.
Wie sähen Schulen, Hochschulen und Kindergärten aus, die sich, wie bereits Kommunen und Firmen in vielen Ländern, von Cradle to Cradle inspirieren lassen? Die sich mit solchen Fragen den Naturwissenschaften nähern? Die damit zu einem Basislager und Labor des Wandels würden? Die das Naheliegende, unsere stoffliche Umgebung und den weiten Horizont, eine Vorstellung vom gelungenen Leben, verbinden? Die Entwicklung von Cradle2Cradle-Schulen wird für das Netzwerk »Archiv der Zukunft« zusammen mit Michael Braungart ein vorrangiges Projekt.
Sie kennen Michael Braungart noch nicht? Sein Buch »Einfach intelligent produzieren« zählt für den Schauspieler Brad Pitt zu den 15 Dingen, die jeder kennen sollte. Und Steven Spielberg will einen Film darüber drehen. »Aus Deutschland kam der Holocaust«, sagt Spielberg, »und vielleicht auch die Rettung, Cradle to Cradle.« In den USA ist Braungart bekannter als in seiner deutschen Heimat. Zu seinem jüngsten Buch, »Intelligente Verschwendung« schrieb Bill Clinton das Vorwort.
Auch andere in München begonnen Debatten werden in Bregenz fortgeführt: Hier nur ein paar Hinweise: Die mit Thomas Sattelberger etwa, der den »Abschied von Söldnerarmeen« in Schulen ebenso wie in Unternehmen verlangt. Seinen Vortrag nannte er ein »Plädoyer für eine geistige Unabhängigkeitserklärung«. Sattelberger war bis seiner Pensionierung Personalvorstand und Arbeitsdirektor bei der Deutschen Telekom. »Die Verkürzung des Lebens auf die Ökonomie«, sagte er jetzt, »ist eine der schlimmsten Entwicklungen unserer Zeit«.
Oder Götz Werner, der Gründer von »dm«, er verlangt von Mitarbeitern nicht nur »know how«, sondern auch »know why«. Warum wollen wir etwas? Ist für diese Frage in den hochtourigen Lernfabriken überhaupt Zeit?
Ähnlichen Fragen ist auch der Soziologe Hartmut Rosa auf der Spur. Was sind Resonanzverhältnisse? Was unterscheidet Resonanz vom Echo? Es ist der gleiche Unterschied, wie der zwischen Lernen und Kopieren.
Reinhard Kahl und das Netzwerk »Archiv der Zukunft«
Mehr Infos und Anmeldung unter www.adz-netzwerk.de