Recht auf gewaltfreie Erziehung
Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. So ist es im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Wo aber fängt dieses Recht an? Und wie steht es um Beschämung und Bevormundung im Kitaalltag? Diese Fragen diskutierten Ingrid Elisabeth Schulz und Sandra Frisch mit anderen Fachkräften im November 2015 in Halle auf der Konferenz »Kinderrechte und Kinderschutz in pädagogischen Organisationen«. Für sie stehen dabei die Kinder im Fokus und die Frage danach, was diese für ein gesundes Aufwachsen brauchen.
»Gewaltfreie Erziehung? Das ist doch eine Selbstverständlichkeit, da brauchen wir gar nicht weiter darüber zu reden!« Das mag oft die erste Reaktion auf dieses sensible Thema sein. Dennoch lohnt es sich, die Begriffe Gewalt und gewaltvolles Handeln immer wieder genau zu betrachten, zu interpretieren und unser eigenes Verhalten daraufhin zu reflektieren.
»(2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.«
Bürgerliches Gesetzbuch, § 1631 Abs. 2
Zugleich wurde am 2. November 2000 an § 16 Absatz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch folgende Ergänzung angefügt: »Sie [Angebote zur Förderung der Erziehung] sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.«
Die gesetzliche Verankerung des Schutzes der Kinder vor Gewalt und die gewaltfreie Erziehung finden wir als Kernregelung in der UN-Kinderrechtskonvention. Diese wurde im Jahre 1990 von 193 Mitgliedsstaaten der UN ratifiziert. Damit sind diese Mitgliedsstaaten die Verpflichtung eingegangen, ihre nationale Gesetzgebung und Praxis der UN-KRK anzupassen. In Deutschland wurde dieses Kinderrecht im Jahre 2000 durch eine Neufassung des § 1631 zur gewaltfreien Erziehung im BGB umgesetzt und durch das Bun-deskinderschutzgesetz im Jahre 2012 verstärkt.
Gewalt im Kitaalltag
Im BGB finden wir zunächst eine Aussage zum Erziehungsrecht der Eltern bzw. deren Pflicht, gewaltfrei zu erziehen (siehe Hervorhebung). Pädagogische Fachkräfte erhalten mit dem Betreuungsvertrag für die Zeit der Erziehung, Bildung und Betreuung jedoch ein abgeleitetes Erziehungsrecht (siehe unten). Wie wir sehen werden, kein Recht ohne Verpflichtung.
Ist die formale Kenntnis dieses Rechts der Kinder zumindest unter PädagogInnen allgemein verbreitet, stellt sich im pädagogischen Alltag doch oft die Frage, was das denn genau bedeutet. Denn wo beginnen körperliche Bestrafung, seelische Verletzung und entwürdigende Maßnahmen?
Hier einige Beispiele für gewaltvolles Handeln:
- das Fesseln von Kindern an Bett oder Stuhl,
- der Zwang, (auf) zu essen,
- die »Ohrfeige, die noch keinem geschadet hat« oder der »Klaps, der doch nicht wehtut«,
- gern als »hartes Zupacken« relativiertes Treten, Schütteln, Schubsen oder Stoßen von Kindern.
Alle Akteure im Kinderschutz sind sich bei diesen Fällen jedoch schnell einig, dass es sich eindeutig um gewaltvolles Handeln gegenüber Kindern handelt1. Jegliche Form körperlicher Bestrafung ist unzulässig, auch bei der Gefahrenabwehr. Lediglich präventives Festhalten der Kinder ist in einem solchen Fall erlaubt.2
Oft geht es jedoch subtiler zu:
- Kinder am Arm ziehen,
- sie von hinten durch den Raum schieben, wenn sie sich nicht wie erwünscht bewegen,
- Kinder ohne Ankündigung von hinten mit dem Stuhl an den Tisch schieben,
- ihnen hinter ihnen sitzend oder stehend den Löffel in den Mund schieben,
- Kindern ungefragt Essen zuteilen,
- sie zur Rechtshändigkeit zwingen,
- Kinder ohne Ankündigung von hinten greifen und sie von einem Ort zu einem anderen heben,
- ihnen von hinten einen nassen Waschlappen ins Gesicht drücken,
- sie ungefragt auf Topf oder Toilette setzen oder dorthin zurückdrücken.
Oft ist unnötiger Kraftaufwand im Umgang mit den Kindern zu beobachten, die körperliche Übermacht der pädagogischen Fachkräfte wird so missbraucht. Das geht manchmal soweit, dass sich pädagogische Fachkräfte mit ihrem ganzen Körper über das Kind beugen und es damit an seiner Bewegung hindern.
Seelische Verletzungen
Auch seelische Verletzungen sind laut § 1631 Abs. 2 Satz 2 BGB verboten. Eine am Persönlichkeitsrecht des Kindes orientierte Erziehung wird durch diese Art der Gewalt aufs Gröbste verletzt3. Als seelische Verletzungen wird demütigendes, kränkendes und herabsetzendes Verhalten gefasst. Darunter fällt beispielsweise das Bloßstellen des Kindes vor anderen Akteuren4. Wer kennt nicht Aussagen wie »Muss ich dir alles dreimal sagen?«, »Hast du keine Ohren?«, »Nicht du schon wieder!«, »Du bist zu dumm dafür«, »Heute hat sie ja wieder …«. Solche Aussagen lösen Scham aus – Scham für uns selbst aber auch für andere Menschen. Vielleicht erinnern auch Sie sich an Situationen, als Sie Kind waren und Eltern, Tanten, Onkel oder PädagogInnen Sie durch abwertende Bemerkungen oder Reaktionen kränkten, beschämten und verletzten. Welche Gefühle haben solche Situationen bei Ihnen hinterlassen?
Nicht nur Beschämungen zählen zu den seelischen Verletzungen, sondern auch:
- ein Kind für längere Zeit allein zu lassen,
- es (gar im Dunkeln) einzusperren,
- emotionale Kälte im pädagogischen Umgang,
- ein Kind nicht oder nur selten zu beachten oder anzusprechen5,
- respektlose Kommunikation und »Dressur«,
- Kommunikation, die sich auf einseitige Befehlssätze der PädagogInnen beschränkt (sogar im Befehlston),
- wenn über die Eltern im Beisein der Kinder schlecht gesprochen wird,
- wenn Pflegesituationen unachtsam durchgeführt werden und es in diesen keine Kommunikation gibt,
- wenn Kinder unkommentiert gepackt werden, um in de-ren Windel oder Hose zu schauen bzw. daran zu riechen oder wenn dies negativ kommentiert wird,
- Kindern Trost oder körperliche Nähe zu verwehren,
- auf Müdigkeit, Krankheit, Schwäche, Trauer oder Wut nicht einzugehen,
- Kindern die Interaktion mit anderen Kindern zu verbieten, sie getrennt zu setzen oder zu isolieren,
- ihnen Materialien, Essen oder Trinken willkürlich zuzuteilen oder zu entziehen,
- wenn Kinder erst etwas dürfen, wenn es von der pädagogischen Fachkraft »angesagt« wird.
Darüber hinaus umfassen entwürdigende Maßnahme noch mehr Verhaltensweisen, die die Würde des Kindes verletzen, beispielsweise auch Bedrohung und Erpressung, wie: »Wenn du nicht aufisst, dann darfst du heute nicht mehr …« oder »Wenn du nicht schläfst, dann …«. Über alle bekannten und bewussten gewaltvollen Handlungen hinaus sind zahlreiche weitere subtile gewaltförmige Verhaltensweisen zu finden, die den pädagogischen Fachkräften in seltenen Fällen bewusst sind oder werden.
Ingrid Schulz (Erzieherin und Pädagogin, langjährige Kita-Leiterin, zertifizierte Fortbildungsreferentin) ist Praktikerin und Fachberaterin. Als Safe-Mentorin bietet sie Fort-und Weiterbildungen an, auch in Anlehnung an die Pädagogik von Emmi Pikler sowie als Multiplikatorin der Qualifizierungsoffensive »Frühe Chancen« nach dem DJI-Konzept.
Sandra Frisch (Diplompädagogin) promoviert in der Elementarpädagogik. Sie arbeitete drei Jahre als Erzieherin im Krippenbereich, forschte zum Kinderschutz in Kitas und ist als Weiterbildnerin im Elementarbereich tätig.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/16 lesen.