Geschichten vom Lernen
Mit dieser Serie wollen wir ErzieherInnen ermutigen, von ihrer Arbeit zu berichten und ihre Lerngeschichten zu teilen. Die Geschichten sollen Kinder zeigen, dass sie als Person und in ihrem Tun gesehen werden. Sie werden stolz auf ihre Geschichte sein und daran wachsen, ebenso wie die Fachkräfte, die sie geschrieben haben und die uns hier schildern, was ihre Herausforderungen sind und wie sie diese angehen. Wir sprachen mit Mechthild Busch, Leiterin der Kita »Unter den Linden« in Paderborn.
Warum haben Sie die Geschichte von den Fischstäbchen gewählt?
Weil sie einen guten Eindruck davon vermittelt, wie wir arbeiten und auch, weil ich es spannend finde, wie es überhaupt zu dieser Lerngeschichte kam. Wir visualisieren ja immer mithilfe von Bildkärtchen – vor allem für die Kinder, die noch nicht so gut deutsch sprechen – was es zum Mittagessen gibt. An einem Tag stand ein Schild mit Fischstäbchen auf dem Tisch und Nuka, der beim Mittagessen neben mir saß, fragte: »Sind die Fischstäbchen in dem Bauch der Fische?« Ich fing an zu erklären, was ich bei der Sendung mit der Maus über Hochseefischer gesehen hatte. Als ich an seiner Reaktion merkte, dass das Thema zu verschwinden drohte, sagte ich: »Man müsste mal in einen Fisch reingucken. Hast du das schon einmal getan?« Das hatte er noch nicht und fand es eine spannende Idee.
Eine Kollegin, die mit uns am Tisch saß und dem Gespräch zugehört hatte, erzählte uns, dass sie einen Angler kennt und tatsächlich brachte sie uns schon wenige Tage später zwei von ihm gefangene Fische mit. Als wir anfingen, sie auszunehmen, kamen sogar Zweijährige neugierig zu uns in die Küche und wollten wissen, was wir da machen. Das war vor allem für Nuka eine richtig gute Erfahrung. Nach dem Fischstäbchen-Projekt kam seine Mutter zu mir ins Büro und sagte, der Junge hätte viel davon zu Hause erzählt. Sie war stolz, zu erfahren, dass ihr Sohn etwas Gutes zum Kitaleben beitragen kann und wir ErzieherInnen und die anderen Kinder das auch bemerken!
Was war an dieser Erfahrung gut für ihn?
Nuka ist ein Kind, das nicht immer problemlos durch den Tag geht. Er eckt oft an und hat es nicht leicht, Kontakt zu anderen Kindern zu bekommen. Deshalb macht er häufig sein eigenes Ding. Weil wir die Idee des Fischstäbchen-Projekts ja auf seine Frage hin gestartet hatten, konnte er zur Abwechslung einmal die Erfahrung machen, die Gemeinschaft zu bereichern und deshalb schrieb ich ihm darüber seine Lerngeschichte. Ich beschrieb ihm, was er mit seiner Frage auch für die anderen Kinder bewirkt hat und wie sehr ich mich darüber freute, mit ihm diese Fischstäbchen-Entdeckungsreise erlebt zu haben. Erst kürzlich bei einem Ausflug erzählte er mir, was er noch alles von unserem gemeinsamen Projekt weiß und zeigte sich sehr stolz.
Machten andere Kinder dabei auch besondere Erfahrungen?
Ja, mir fiel auf, dass sich zwei weitere Jungs, die ebenfalls etliche Konflikte in sich tragen, vom Ausnehmen und Braten des Fisches sehr angesprochen fühlten. Beide gehören zu den Kindern, von denen es schnell heißt, sie würden nur Blödsinn machen und tatsächlich fordern sie das Team oft. Bereits während des Fischstäbchen-Projektes konnte ich sie für etliche konstruktive Momente wertschätzen. Zum Beispiel dafür, dass sie gut Hand in Hand arbeiteten: Während der eine Junge noch den Fisch mit Petersilie bestreute, fing der andere bereits an, den Tisch für alle zu decken. Sie waren an diesem Nachmittag Teil der Gemeinschaft und schlugen sogar von sich aus vor, mal wieder »noch was anderes zu machen«.
Woraus lernen Ihre Fachkräfte?
Ich kann Ihnen ein Beispiel von mir selbst erzählen. Vor einiger Zeit sorgten einige Kinder beim Essen für große Unruhe. Verzweifelt darüber sagte ich: »So, jetzt essen wir am Tisch nebenan« und nahm die unruhigen Kinder mit an diese Art Straftisch. Weitere Kinder kamen dazu und ich erlaubte ihnen, sich zu uns zu setzen. Bei dieser Mahlzeit hatten wir schönste Tischgespräche und am Tag darauf fragten die Kinder erneut, ob sie wieder mit mir zusammen essen dürfen. Da schämte ich mich, denn mir wurde klar, dass es nicht an den Kindern liegt, wenn Situationen eskalieren.
Tauschen Sie sich über solche Themen aus? Und: Woher nehmen Sie sich die Zeit dafür und für die Lerngeschichten?
Wenn ich im LeiterInnen-Kreis von meiner Arbeit spreche, werde ich das auch oft gefragt. Ich sage dann immer, wenn ich mir dafür keine Zeit nehme, könnte ich eine Kita in dieser Größe – wir sind inzwischen nicht mehr sieben, sondern 20 MitarbeiterInnen – nicht voranbringen.
Sicher reflektieren wir solche Erfahrungen miteinander. Um den Raum dafür zu schaffen, beherzige ich z.B. einen Rat meiner Fachaufsicht: »Anforderungen wie Abrechnungen oder sonstige Nachweise müssen erledigt werden. Aber wenn eine andere Kollegin das besser und effektiver kann, sollten Sie ihr diese Aufgaben anvertrauen.«
Wir treffen uns monatlich für eine dreistündige Dienstbesprechung. Formelle Fragen, die in der großen Runde unnötige Zeit fressen würden, kläre ich bereits zuvor im kleineren Kreis. Weil sich das Team zudem wöchentlich in Kleingruppen trifft, finden wir in der großen Runde immer die Zeit, miteinander auch über inhaltliche Themen zu sprechen. Damit die Lerngeschichten auf keinen Fall zu kurz kommen, schicke ich sie seit Kurzem auch per E-Mail an das ganze Team.
Vor neun Jahren hatten wir nur 70 Kitakinder in drei Gruppen. Inzwischen sind es 114 Kinder, 34 von ihnen sind unter zwei Jahre. Um sowohl den Zwei- als auch den Sechsjährigen gerecht zu werden, haben wir das Stammgruppenkonzept vor einiger Zeit hinter uns gelassen. Mit dem neuen offenen Konzept können wir unseren Kindern mehr Raum für ihre Fragen und Ideen bieten und auch unsere Fachkräfte gehen jetzt nach Feierabend zufriedener nach Hause.
Wie bringen Sie Ihr Team voran?
Fischstäbchen-Projekt Fische zu besorgen, bestärke ich auch die anderen darin, aktiv zu werden, z.B. mit den Kindern auch mal ein Tiergeschäft zu besuchen, weil sie sich gerade für Mehlwürmer interessieren. Wenn solche Impulse von meinen Fachkräften kommen, sage ich ihnen: »Ja, genau das ist eure Aufgabe«, statt: »Wann sollen wir das jetzt auch noch machen?« Beim Fischstäbchen-Projekt machten acht Kinder mit. Wenn jede Erzieherin und jeder Erzieher mit zehn oder 15 Kindern einem Thema nachgeht, wird die ganze Kita zu einem lebendigen Lernhaus und alle sind gut versorgt.
Woher kommen die Impulse für Themen?
Eigentlich immer von den Kindern. Einmal im Jahr bekommen wir z.B. Besuch von einem Polizisten. Als bei diesem Besuch ein Kind fragte: »Habt ihr auch ein Gefängnis?« und ob man das mal anschauen könne, antwortete der Polizist zunächst, es sei leider nicht möglich, Kinder auf die Wache einzuladen. Weil ihm die Neugierde dieses Kindes in Erinnerung blieb, machte er es dennoch möglich! Sogar ihre Fingerabdrücke wurden abgenommen. Auch diesen Ausflug dokumentierten wir mit einer Lerngeschichte. Sie hieß »Florian hat eine Idee« und spätestens als wir diese Geschichte vorlasen, wussten alle Kinder: »Das hat sich Florian ausgedacht.« Oft sind es übrigens die Jüngsten, die seitdem immer mal sagen: »Heute will ich mal eine Idee haben.«
Machen Sie die Lerngeschichten auch öffentlich?
Ja, das tun wir, denn wir arbeiten Reggio-orientiert. Deshalb stellen wir im Eingangsbereich die aktuellen Lerngeschichten aus und lesen sie den Kindern auch vor, wenn sie uns darum bitten. Auch den Spruch »Reggio ist kein Modell, sondern eine neue Art des Denkens über Kinder. Die kann man nicht lernen, sie muss jeden Tag gefunden werden«, haben wir dort aufgehängt.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/16 lesen.