Geschichten vom Lernen
Die Lerngeschichten aus Neuseeland haben in vielen deutschen Kitas Einzug gehalten. Um zu zeigen, wie vielfältig sie sein können, stellen Autorinnen des Buches »Begeisterung teilen« in dieser Serie verschiedene Lerngeschichten vor. Allen gemeinsam ist ihre Wirkung: Die Kinder sind stolz darauf, als Person und in ihrem Tun gesehen zu werden. Sie wachsen daran, ebenso wie die Erzieherinnen, die die Lerngeschichten geschrieben haben.
Die Bedeutung einer Lerngeschichte für ein ehemaliges Integrationskind, das jetzt als Praktikantin in seiner früheren Kita arbeitet, zeigt dieser Beitrag. Das Interview mit der Leiterin Maria Hasse und der Erzieherin Denise Wiessner von der Kindertagesstätte Wegberg führte Klara Schlömer.
In Ihrer Lerngeschichte von Neele beschreiben Sie eine neue, ungewöhnliche Situation im Bereich Inklusion Ihrer Einrichtung. Welche Besonderheit ist das?
MH: Seit einigen Monaten kommt die 15-jährige Neele als Praktikantin einmal wöchentlich zu uns. Sie war bereits als Kind in der integrativen Gruppe unserer Einrichtung und Frau Wiessner war ihre Erzieherin.
DW: Ja, ich kenne Neele schon lange und habe sie als fröhliches und kontaktfreudiges Kind in Erinnerung. Da sie in der Nähe wohnt, hatten wir auch zwischenzeitlich immer wieder Kontakt zu ihr. Inzwischen besucht sie eine Förderschule für körperliche und motorische Entwicklung. Zu ihren berufsvorbereitenden Möglichkeiten dort gehören auch verschiedene Praktika. Neele bat uns darum, ein Jahr lang einmal wöchentlich einen Vormittag bei uns als Praktikantin arbeiten zu dürfen, statt in einer Werkstatt für Behinderte, wie das normalerweise von ihrer Schule vorgesehen ist.
Und da haben Sie spontan zugesagt?
MH: Spontan habe ich zunächst zugesagt, dies mit dem gesamten Team zu besprechen. Wir »leben« in unserer Einrichtung die Inklusion und so ist es für uns selbstverständlich, dass dies nicht mit dem Schuleintritt endet. Inklusion muss auch für Jugendliche und Erwachsene möglich sein. Andererseits muss ich als Leitung auch bedenken, ob und wie wir solch eine »doppelte Inklusion« leisten können.
DW: Das gesamte Team zeigte eine hohe Bereitschaft, Neele diese Chance zu geben. Gefördert wurde dies zusätzlich dadurch, dass auch der Physiotherapeut unserer Einrichtung Neele schon als Kind begleitet hat.
MH: Neeles Praktikumstage haben wir so gewählt, dass der Physiotherapeut dann auch bei uns ist. Dabei ist es nicht nur beruhigend, dass er uns bei Bedarf beraten und unterstützen kann, sondern er hat gleich Ansatzpunkte gesehen, wie er Neele in seiner Arbeit mit einzelnen behinderten Kindern mit einsetzen könnte. Auch von ihrer Schule hat Neele die Genehmigung für das Praktikum erhalten.
Neele ist ja jetzt seit einigen Monaten in Ihrer Gruppe. Wie haben die Kinder darauf reagiert?
DW: Jeder Praktikumstag ist nach wie vor spannend und eine neue Herausforderung, sowohl für Neele als auch für uns und für die Kinder. Neele kommt ja nicht als Kind in die Gruppe zurück, sondern als Praktikantin und erlebt die ihr bekannten Personen und Räume aus einer völlig neuen Perspektive. Für die Kinder der Gruppe war es zunächst fremd, dass auch eine Erwachsene im Kindergarten einen Rollstuhl benötigt. Es ist für Neele auch sprachlich nicht leicht, sich verständlich zu machen. In der Regel ist es so, dass man sie nach einiger Zeit immer besser versteht. Eltern oder Kinder anderer Gruppen reagieren manchmal befremdet oder unsicher, wenn sie Neele nicht verstehen können. Für uns ist es immer wieder berührend zu erleben, wenn die Kinder der Gruppe in solch einer Situation »übersetzen« und ganz selbstverständlich erklären, dass Neele nicht so gut sprechen kann und man ganz genau zuhören muss.
Und wie erleben Sie Neele in ihrer neuen Rolle?
Von Beginn des Praktikums an war Neele sich ihrer Rolle als »Praktikantin« stolz bewusst. Als hilfreich für die Gestaltung des Praktikums erleben wir, wenn Neele von uns ganz konkrete Anregungen und Aufträge bekommt, die mit der Beobachtung und Betreuung der Kinder zu tun haben, bei denen sie ihre vorhandenen Möglichkeiten und Fähigkeiten einsetzen und nutzen kann. Wir konnten ihr schon oft positiv bestätigen, was sie alles bereits kann und bewirkt.
Dass sie an anderen Menschen interessiert ist und gern beobachtet, kam ihr auch beim Einstieg ins Praktikum zugute. Schnell kannte sie die Namen aller Kinder und wusste genau, wo sich welche Kinder aufhielten. Neeles ganz besonderes Kennzeichen ist ihre ansteckend fröhliche Mimik und ihr begeistertes Lachen, mit dem sie auf die Ansprache von anderen Menschen reagiert. Zwischen Neele und der dreijährigen Havin z.B., die entweder im Rollstuhl sitzt oder sich sitzend fortbewegt, war von Anfang an eine besondere Beziehung und gegenseitige Sympathie spürbar, ohne jedes Wort, nur mit Blicken und Gesten. Diese schöne Erfahrung half Neele nach und nach auch, von sich aus zu anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Erfreut bemerkte Neele bereits nach kurzer Zeit, dass sie von den Kindern positiv wahrgenommen wird.
War der Beziehungsaufbau zwischen Neele und Arbona – um die es in der Lerngeschichte geht – ähnlich?
DW: Nein, das lief völlig anders. Arbona ist ein sehr großes, kräftiges und impulsives Mädchen. Kontakt zu anderen nimmt sie, in der Regel sehr forsch und ohne Berührungsängste, vor allem über Gegenstände auf. Arbona spricht von sich aus selten, auch nicht in der albanischen Sprache ihrer Familie. Manchmal wiederholt sie einzelne Wörter, die sie von uns hört.
Arbona wurde im Alter von drei Jahren am Ohr operiert und kann seitdem wesentlich besser hören. Anfangs hatten die Eltern gehofft, dass ihr Kind dadurch besser Kontakt zu anderen Kindern finden und auch die deutsche Sprache leichter lernen würde. Inzwischen wurde eine allgemeine Entwicklungsverzögerung diagnostiziert und ihr Verhalten zeigt uns oft weitere Besonderheiten in ihrer Wahrnehmung und Kontaktaufnahme. Auffallend ist ihre Bewegungsfreude und Begeisterung für Tänze, die sie vor dem Spiegel ausdauernd aufführt und mit Mimik und manchmal singend begleitet. Dazu ist es für Arbona äußerst wichtig, dass sie immer die gleiche bunte Kleidung anzieht und offensichtlich eine ihr bekannte Rolle aus einem Film immer wieder nachspielt. Glitzernde und leuchtende Objekte ziehen Arbona an, technische Geräte faszinieren sie, äußerst geschickt und schnell probiert sie deren Handhabung aus. So war es nicht verwunderlich, dass Neeles Rollstuhl sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, insbesondere die leuchtenden Strahler an den Rädern und die Funktionsweise von Antrieb und Bremse des Rollstuhls. Immer, wenn Neele den Rollstuhl verließ und mit Rollator oder mit Unterstützung des Therapeuten unterwegs war, ergriff Arbona die Gelegenheit und fuhr begeistert mit dem Rollstuhl durch die Flure oder das Außengelände.
Klara Schlömer, Dipl.-Sozialwissenschaftlerin, war lange Zeit in der Erzieherausbildung tätig. Sie ist Fortbildnerin zu den Themen Beobachtung und Lerngeschichten, absolvierte mehrere Studienaufenthalte in Neuseeland und ist Mitautorin des Buches »Begeisterung teilen, Lerngeschichten in die Praxis tragen«.
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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/17 lesen.