Eine Weihnachtsgeschichte
Schreib uns eine Weihnachtsgeschichte!, bat mich die Redaktion dieser Zeitschrift. Eine Weihnachtsgeschichte? Ich hab noch nie eine Weihnachtsgeschichte geschrieben. Ich weiß, wie man Märchen schreibt oder eine Fabel. Doch wie schreibt man eine Weihnachtsgeschichte? Wer soll darin vorkommen? Wo soll sie spielen? Was soll sie beinhalten? – Ich bitte mir Bedenkzeit aus.
Hauptsächlich geht es zu Weihnachten ja um Jesus Christus Gottessohn, dessen Geburt gefeiert wird. Josef und die hochschwangere Maria sind auf dem Weg nach Bethlehem. Niemand will die beiden beherbergen. Schließlich finden sie in einem ärmlichen Stall Unterschlupf. Dort wird Jesus dann geboren. Ein Engel verkündet den Hirten auf dem Feld die Botschaft und ein Stern leitet die Heiligen Drei Könige zum Jesuskind.
Aber das ist natürlich eine sehr bekannte Geschichte, die sowieso jedes Jahr neu zur Weihnachtszeit erzählt und in den Kirchen gespielt wird.
Vielleicht könnte meine Geschichte von Armut und Ungleichheit erzählen, davon, dass es trotz des ungeheuren Reichtums einiger weniger in unserem Land noch immer Menschen gibt, die keine Herberge finden und zu Weihnachten keine Geschenke bekommen. Sofort fällt mir hierzu eine Geschichte ein, die es schon gibt. Hans Christian Andersens aufrüttelndes Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern1 handelt von einem kleinen Mädchen, das in einer kalten Silvesternacht barfuß und ohne Mütze noch auf der Straße ist, um Schwefelhölzchen zu verkaufen und schließlich – trotz der vielen begüterten Menschen ringsum – zu Tode erfriert.
Oder die Geschichte erzählt von der Schwierigkeit für Kinder, Eltern, Freunde passende Geschenke zu finden. Geschenke gehören ja – als Ausdruck der Freude über das Geschenk, das Gott uns mit seinem Sohn gemacht hat – unbedingt zu Weihnachten dazu. Das wäre eine Idee für die Geschichte! Aber gibt es da nicht schon diese berührende Erzählung O. Henrys »Das Geschenk der Weisen«2? Eben! James und Della sind ein junges Ehepaar, ganz verliebt, aber ohne Geld. Für eine Uhrenkette als Weihnachtsgeschenk lässt Della sich ihr knielanges, schönes Haar abschneiden und verkauft es als Material für Perücken. Jim wiederum verkauft seine wertvolle Uhr, um Della juwelenverzierte Kämme für ihr wunderbares Haar zu schenken.
Vielleicht könnte meine Geschichte in der Adventszeit auf einem der zahlreichen Weihnachtsmärkte spielen und Kerzen, Plätzchenduft und Zimtsterne kommen in der Geschichte vor. Finde ich vielleicht in der Zeitung Ideen und Anregungen? Richtig, da steht etwas über den Weihnachtsmarkt, wie schön es dort abends beim Einkaufen duftet, was es dort alles zu kaufen gibt und wie viele Besucher der Markt seit Tagen schon angelockt hat. Kling, Glöckchen, klingelingeling heißt es da begeistert. Aber mit klingelingeling ist nicht das Weihnachtslied gemeint, sondern der Klang der Ladenkassen.
Schreib uns eine Weihnachtsgeschichte! Wenn das so einfach wäre. Und da stolpere ich in einem Buchladen über ein Bilderbuch und finde die Erzählidee
Stell dir vor, du besuchst das Meer und den Strand und da siehst du auf einmal dieses merkwürdige Ding, riesengroß, von der Form einer Teekanne vielleicht. Außen siehst du kleine Türen und Schubladen, die ins Innere führen. Ist es eine Maschine? An den Seiten und unten kommen Krakenarme und Krakenfüße heraus. Schon unheimlich, dieses Ding. Aber es sieht traurig und verlassen aus, steht da wie fehl am Platz. Was würdest du tun?
Jochen Hering stellt das Kinderbuch von Shaun Tan: Die Fundsache. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld vor.
1 Hans Christian Andersen hat dieses sozialkritische Märchen 1845 geschrieben. Im Netz gibt esa den Text unter: www.sagen.at/texte/ maerchen/maerchen_daenemark/maedchen_ schwefelhoelzer.html
2 O. Henry, Das Geschenk der Weisen, erstmals 1905 erschienen, im Netz unter: http://literaturnetz.org/2608
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/18 lesen.