Freies Spiel als Training für den Ernst des Lebens
Bildungsprogramme für Kinder unter drei schießen wie Pilze aus dem Boden – obwohl wir wissen, dass Kinder die Grundkompetenzen in sämtlichen Bildungsbereichen insbesondere im freien Spiel erwerben. Doch wie geht freies Spiel und warum genau ist es für die gesunde Entwicklung unserer Kinder notwendig? Welche Umgebung lädt zum freien Spiel ein und welche pädagogische Haltung erfordert sie? Die Pädagogin und Journalistin Elisabeth C. Gründler kennt beide Rollen – die der »Wissensvermittlerin« und die der »Umgebungsvorbereiterin«.
»Wenn Kinder spielen, sind sie gesund«, sagt der Volksmund und formuliert damit eine inzwischen auch von der Wissenschaft bestätigte Erkenntnis. Spielen gehört unauflöslich zur Kindheit. Wenn ein Kind nicht spielt, muss ihm etwas fehlen, so die Wahrnehmung der Erwachsenen aller Kulturen und Zeitalter. Dennoch ist die Liste der Ermahnungen, die spätestens in der Schule auf Kinder einprasseln, endlos: »Hör auf zu spielen und hör zu!« oder: »Spiel nicht rum, sondern schlag Dein Buch auf!« Doch wer erinnert sich nicht gern daran, wie wir selbst damals unter dem Tisch weiter »Schiffe versenken« oder »Käsekästchen« gespielt haben? Schule galt und gilt als »Ernst des Lebens« und damit als Gegenpol zum spontanen Spiel.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass dies inzwischen schon in der Kita oder gar in der Krippe seinen Anfang nimmt – und das, obwohl »spielerisch« Gelerntes nachweislich sehr viel nachhaltiger erinnert, gewusst und angewendet wird als eingebläutes und auswendig gelerntes Wissen. Spielen hat, zumindest unter Erwachsenen, keinen guten Ruf. Spielende Erwachsene sind möglicherweise süchtig oder – bestenfalls – einfach nur unseriös. Das Urteil »Er ist ein Spieler«, hat den Subtext »Halte dich fern von ihm!«
Was der schulische Bildungsprozess regelmäßig ignoriert: Der Versuch, Kinder vom Spielen abzuhalten, arbeitet gegen die Biologie, gegen Millionen Jahre der Evolution. Die Fähigkeit zu spielen, teilt der Mensch mit seinen prähistorischen, aufrecht gehenden Vorfahren und auch mit höheren Säugetieren wie Hunden, Katzen oder Affen. Die Evolution erfindet nichts, was einer Spezies keinen Vorteil bringt. Was also ist der Sinn der Fähigkeit zum Spielen? Oder anders gefragt: Warum ist ein anderthalbjähriges Menschenkind in der Lage, einen aufgeräumten Raum binnen kurzer Zeit in ein – aus Erwachsenensicht – mittleres Chaos zu verwandeln, einfach nur, weil es seinem Drang zur Erkundung – man kann es auch Spielen nennen – nachgibt?
Sammeln und vergleichen
Sofia, 15 Monate alt, im Spielbereich ihrer Krippe. Mit beiden Händen hält sie eine blaue Schüssel. Darin zwei Kugeln, grün und lila. Im Hintergrund eine weitere Schüssel, Körbe und eine Kiste. Sofia interessiert sich für den Inhalt ihrer Schüssel. Intensiv schaut sie hinein. Die vor ihr liegende weitere Kugel gibt einen Hinweis auf ihr Spiel: Sofia sammelt. Sammeln und sortieren ist ein typisches Spiel von Kindern im zweiten Lebensjahr. Und genau dafür ist ihre Spielumgebung eingerichtet. In ihrer Reichweite befinden sich Körbe, Schüsseln und Kästen unterschiedlicher Größe, Material wie Plastik, Holz, Bast und Messing, Kleinteile, die gut zu greifen sind.
Kleinkinder erkunden die Welt mit allen Sinnen und sammeln dabei Erfahrungen mit den Qualitäten der Dinge. Babys greifen nach allem, was in Reichweite ist, und führen es reflexartig zum Mund, denn dieser ist noch ihr wichtigstes Erkundungsorgan. Dieses Entwicklungsstadium hat Sofia bereits hinter sich gelassen. Sie untersucht die Dinge vorzugsweise mit Händen, Augen und Gehör und setzt die Gegenstände zueinander und zu sich selbst in Beziehung. Der Schweizer Biologe Jean Piaget, der als Begründer der Entwicklungspsychologie gilt, klassifizierte dieses frühkindliche Handeln als sensomotorisch, abgeleitet von »sensus« = Sinn, und »Motorik« = Bewegung. Damit drückt er aus, dass jegliches Begreifen der Welt in diesem Alter über die Sinne und über Bewegung geschieht. Mit zunehmender Hirnreife und fortschreitendem Alter stehen uns weitere Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung.
Elisabeth C. Gründler ist ausgebildete Pädagogin und hat mehrere Jahrzehnte lang Kinder und Jugendliche aller Altersstufen sowie Erwachsene in ihren Lernprozessen begleitet. Sie arbeitet außerdem als Journalistin und ist Autorin mehrerer Bücher – ohne das freie Spiel wäre sie so weit nicht gekommen.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2021 lesen.