Wie Talente aufblühen
Was ist ein Talent? Wie können wir die Talente von Kindern erkennen und fördern, und wie trägt das zu ihrer Selbstbildung bei? Sabine Hebenstreit-Müller stellt das Konzept der »Talente-Arbeit« vor und zeigt anhand des »Talente-Archipels«, wie Talente in der pädagogischen Praxis gefördert werden können.
»Talente-Arbeit« – diese Kombination von Begriffen erscheint erst mal recht ungewöhnlich. Was hat Talent mit Arbeit zu tun? Eine ganze Menge, wie ich in diesem Beitrag versuche aufzuzeigen. Unter Talent verstehen wir landläufig eine angeborene, besondere Gabe, die man hat oder auch nicht. Angenommen wird: Wer Talent hat, kann etwas besonders gut. Er oder sie ist beim Rechnen, Schwimmen oder Malen so gut, weil er oder sie eben Talent hat – im Unterschied zu denen, die mangelnde Begabung mit viel Anstrengung ausgleichen müssen.
Ein solches Verständnis von Talent hat zur Konsequenz, dass gute Leistungen vor allem von denen erwartet werden, denen eine besondere Begabung attestiert wird. Problematisch ist das für die einen wie für die anderen. Wer als geringer begabt eingeschätzt wird, erfährt von vorneherein weniger Zutrauen in sein Tun. Und wer als besonders begabt gilt, meint, auf Üben verzichten zu können – und wer viel üben muss, der hat wohl kein Talent. Dem möchten wir eine andere, dynamische Perspektiv auf Talente von Kindern gegenüberstellen. Wir verstehen Talententwicklung als einen Prozess, in dem Kinder Gelegenheiten bekommen, zu wachsen und sich zu entfalten. Jede und jeder hat Talente. Es kommt nur darauf an, sie zum Blühen zu bringen! Das zu ermöglichen und zu unterstützen ist eine zentrale pädagogische Aufgabe.
Dynamisches versus statisches Selbstbild
»Kreativität erlernt man durch Arbeit. Wer viel arbeitet, hat viel Erfahrung. Benutzt man dieses Wissen in Kombination mit etwas spannendem Neuen, dann ist das eine kreative Symbiose«, sagte David Garrett im Interview mit der Zeitschrift FORUM. David Garrett ist ein bekannter Star-Geiger, dem man zweifelsohne großes Talent attestiert. Gleichwohl unterstreicht er die Bedeutung von Arbeit und Erfahrung für die Ausübung seiner Kunst.
Die Psychologin Carol Dweck (2019) zeigt, wie sehr die Fähigkeit, die eigenen Talente zu entwickeln, vom Selbstbild abhängen. David Garrett wäre für sie ein Beispiel für einen Menschen mit einem dynamischen Selbstbild. Ein dynamisches Selbstbild korrespondiert mit der inneren Überzeugung, dass man sich weiterentwickeln kann und Fähigkeiten erlernen und durch Übung verbessern kann. Fehlschläge werden als Gelegenheiten gesehen, dazuzulernen und es besser zu machen.
Menschen mit dieser Einstellung lieben schwierige Probleme und Herausforderungen und stecken Misserfolge gut weg. Davon unterscheidet sich deutlich das statische Selbstbild, das auf dem Glauben beruht, dass Fähigkeiten und Talente angeboren und unveränderlich sind. Selbstvertrauen und Selbstwert steigen und fallen mit Erfolg oder Niederlage. Daraus folgt häufig, dass sich Menschen mit einem statischen Selbstbild ständig unter Beweis stellen müssen, dass sie das jeweilige Talent auch tatsächlich »besitzen«. Schwieriges, Riskantes und neue Herausforderungen werden gemieden, weil ein Fehlschlag den Selbstwert in Frage stellt. In ihrer Angst zu scheitern stehen sie sich bei der Entwicklung ihrer Talente selbst im Weg und schränken ihre eigenen Potenziale ein.
Die Unterschiede zwischen dynamischem und statischem Selbstbild sind sicherlich als idealtypisch zu betrachten. Jeder Mensch ist irgendwo auf dem Kontinuum zwischen dem einen und dem anderen Pol zu verorten. Carol Dweck liefert uns jedoch nicht nur Anhaltspunkte zur Unterscheidung von Selbstbildern, die unser Leben wesentlich beeinflussen. Sie betont, dass auch ein statisches Selbstbild veränderbar ist, wenn die Individuen andere Erfahrungen machen können. Für uns folgt daraus die Frage: Wie können wir dazu beitragen, dass Kinder ein dynamisches Selbstbild entwickeln – dass sie kreativ und mit Entdeckerfreude auf die Welt zugehen?
Prof. Dr. Sabine Hebenstreit-Müller, Diplompädagogin, Lehrerin und Sozialwissenschaftlerin, ist Honorarprofessorin an der Universität Halle-Wittenberg. Derzeit arbeitet sie als Organisationsberaterin, Evaluatorin und Weiterbildnerin. Sie bietet Weiterbildungen zum Thema »Talente-Arbeit« an.
Kontakt
www.paedagogik-hebenstreit-mueller.de
Bild 1 -3 Sabine Hebenstreit-Müller
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2021 lesen.