Kulturelle Vielfalt in der Demokratiebildung
Demokratie und Vielfalt gehören zusammen – und doch sind Demokratiebildung und kulturelle Offenheit manchmal schwer zu vereinbaren. Wie das über alternative Wege der Demokratiebildung dennoch gelingen kann, beschreibt Bettina Lamm.
Der zweijährige Tyler nimmt das Spielzeugauto der ebenfalls zweijährigen Carmen. Während die aus Mexiko migrierte Bezugsperson Carmen auffordert zu teilen, hat die euro-amerikanische Erzieherin den Impuls, Tyler zu belehren, Carmen nicht das Spielzeug wegzunehmen. Zwei Bezugspersonen – zwei Reaktionen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Was verdeutlicht dieses Beispiel aus dem US-amerikanischen Aktionsforschungsprojekt »Bridging Cultures« zur Verbesserung interkultureller Kommunikation in Bildungseinrichtungen? Gibt es eine richtige Reaktion? Welche der Reaktionen trägt zur Demokratiebildung bei? Und sind demokratische Werte mit unterschiedlichen kulturellen Erziehungsstilen vereinbar?
Demokratie und Vielfalt gehören zusammen
Demokratie und Vielfalt scheinen uns unauflöslich miteinander verbunden. Kein anderes politisches System und keine andere Gesellschaftsform ist dem Vielfaltsgedanken so verpflichtet wie Demokratie. Beide haben ihre Wurzeln in den Menschenrechten, in den Rechten auf Gleichheit und Freiheit. Gesellschaftlicher Pluralismus und die gleichberechtigte Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe stellen Kernprinzipien der Demokratie dar. In der Realität wird die Unterschiedlichkeit der Menschen jedoch oft zur Herausforderung für den Gleichheitsanspruch der Demokratie. Häufig sind die Chancen, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen, in der Praxis eben doch nicht gleich verteilt: z.B. aufgrund von Armut, Sexismus, Rassismus.
Auch in der frühpädagogischen Praxis birgt die Realisierung von Demokratiebildung und Vielfaltsbewusstsein immer wieder Herausforderungen.
Wer wird gehört und warum?
Ein Schlüssel zur Demokratiebildung ist die direkte und wiederkehrende Erfahrung von Beteiligung und geteilter Verantwortung
im alltäglichen sozialen Zusammenleben.1 Eine zentrale Herausforderung der demokratieförderlichen Gestaltung des (früh-)pädagogischen Alltags liegt allerdings darin, dass Kinder durch ihre Verschiedenheit über ungleiche Voraussetzungen verfügen, ihre demokratischen Rechte gleichermaßen zu nutzen. So können individuelle Unterschiede in Bezug auf den Entwicklungsstand der Kinder, sprachliche Fähigkeiten, Geschlecht, Körpergröße, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen, Temperament, ihren familiären und kulturellen Erfahrungshintergrund und vieles mehr zu Barrieren der Beteiligung werden. Wenn sich beispielsweise immer nur die größeren, lauteren oder sprachlich gewandteren Kinder durchsetzen, wird Beteiligung zu einem Vorrecht einzelner privilegierter Personen oder Gruppen und trägt zur Verfestigung gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse bei.2 Um dem entgegenzuwirken, braucht es eine Reflexion der Machtverhältnisse und eine bewusste Gestaltung der Interaktionen und Alltagsroutinen.
Neben systematischer Selbstreflexion gilt es auch, die Einrichtungsstrukturen kritisch zu hinterfragen, um mögliche Hindernisse der Beteiligung abzubauen und institutionelle Diskriminierung zu vermeiden. Prüffragen zur Reflexion der gelebten Partizipation in der eigenen Einrichtung können sein:
- Werden alle Kinder eingeladen, mitzuwirken und mitzugestalten? Wird allen das Gefühl vermittelt, dass ihre Ideen, Meinungen und Aktivitäten erwünscht sind und gebraucht werden?
- Haben alle Kinder Zugang zu den notwendigen Informationen? Wissen z.B. alle Kinder, wo der Speiseplan oder die nächsten Ausflugsziele präsentiert werden und sind die Darstellungen für alle verständlich?
- Sind die Beteiligungsformen wirklich für alle zugänglich? Herrscht Offenheit für mögliche andere Beteiligungsformen als die vorgegebenen?
- Werden alle Beiträge gleichermaßen anerkannt und wertgeschätzt? Halte ich als Fachkraft meine eigene Bewertung zurück, bin ich offen für die Ideen und Bedürfnisse aller Kinder und nehme sie ernst?
- Wo liegen mögliche Barrieren der Beteiligung? Worin bestehen sie genau?
- Welche Kinder tragen die Entscheidungsprozesse? Welche Kinder bringen sich kaum ein? Was könnte ihnen helfen, sich aktiver zu beteiligen?
Widersprüchliche kulturelle Werte
Der Reflexion besonders schwer zugänglich sind kulturelle Werte und Normvorstellungen. Zum einen sind sie beim Gegenüber nicht direkt zu beobachten. Zum anderen verfügt jede Person, also auch jede einzelne Fachkraft, über (unbewusste) kulturelle Repräsentationen, die ihre alltäglichen Interaktionen beeinflussen. Darüber hinaus sind auch der wissenschaftliche Diskurs über frühkindliche Bildung und Entwicklung sowie die konzeptionelle Gestaltung der einzelnen Kitas von kulturellen Überzeugungen geprägt. So entsteht ein Widerspruch zwischen der Forderung, elementare Werte und Kulturtechniken in der Kita zu vermitteln, und der gleichzeitig geforderten Offenheit für kindliche Heterogenität.3
Es steht außer Frage, dass demokratische Werte vermittelt werden sollen, also Kinder »auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft« vorbereitet werden sollen.4 Zugleich muss Bildung darauf ausgerichtet sein, »dem Kind Achtung vor seinen Eltern, seiner kulturellen Identität, seiner Sprache und seinen kulturellen Werten […] zu vermitteln.«4 Die Herausforderung besteht also darin, Demokratiebildung als Normsetzung zu akzeptieren, ohne gleichzeitig weitere (unbewusste) kulturelle Normsetzungen vorzunehmen. Es gilt, offen dafür zu sein, dass unterschiedliche Entwicklungspfade zu dem angestrebten Ziel führen können.
Dr. Bettina Lamm ist Geschäftsführerin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung mit Arbeitsschwerpunkt frühkindliche Entwicklung und Sozialisationsstrategien im kulturellen Kontext. Sie ist Autorin vieler wissenschaftlicher Artikel und Beiträge für die Praxis.
Kontakt
1 Dewey J. (2011): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. (neu herausgegeben von J. Oelkers). Weinheim
2 Wagner P. (2012): Thesen zum Verhältnis von Inklusion und Partizipation. Vortrag auf dem Fachtag »Baustelle Inklusion 2012: Inklusion und Partizipation« (Berlin, 15.06.2012). Verfügbar unter: https://baustelle2012.kinderwelten.net, unter Vorträge ansehen Vortrag auswählen
3 Prengel A. (2014): Inklusion in der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. München
4 Vereinte Nationen (1989): Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Verfügbar unter: https://www.kinderrechtskonvention.info/
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2021 lesen.