Die 100 Sprachen der ErzieherInnen
Die Botschaft der 100 Sprachen aus dem kleinen Reggio Emilia hat sich bis in alle Welt herumgesprochen. Dass sich nicht nur Kinder in 100 Sprachen ausdrücken, sondern alle Menschen, ist weniger präsent. Die Fortbildnerin und Fachberaterin Marion Tielemann interessiert sich für die der ErzieherInnen.
Immer wieder erlebe ich, dass die schönsten Gespräche in den Pausen stattfinden. Dann stehen die ErzieherInnen zusammen und erzählen sich aus der Praxis. Sie erzählen mit Lust und mehr, als in eine Pausenzeit passt. Vieles kommt von ganzem Herzen, vieles wäre gern auch noch erzählt worden. Zurück im Seminarraum verstummen sie und schalten aufs Zuhören um. Wie in der Schule. Hat uns der Frontalunterricht, wie er gegen besseres Wissen bis heute vielerorts praktiziert wird, die Sprache verschlagen? Hat uns die Schulerfahrung derart geprägt, dass FortbildnerInnen als »überlegene« und »wissende« Fachkräfte wahrgenommen werden und sie diesen Eindruck durch Unmengen mitgebrachter schriftlicher Materialien unterstützen?
Ich habe diese Situation auf einer Fortbildung zum Thema gemacht und erfahren, dass ErzieherInnen in der Regel nicht davon ausgehen, dass FortbildnerInnen an ihrem Wissen und ihren Gedanken interessiert sind. Eine Erzieherin erklärte es folgendermaßen: »Wir kommen ja alle aus unterschiedlichen Kitas und haben unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Interessen. Wir werden zwar gefragt, ob wir über die jeweiligen Themen Bescheid wissen und uns damit auskennen, aber das ist doch bei jeder Erzieherin anders. Meist traut sich niemand von uns, ehrlich zu antworten, oder es reden immer dieselben.«
Lebendiger Austausch
In der Reggio-Pädagogik stehen die 100 Sprachen der Kinder im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit. Damit sie nicht verstummen, brauchen sie, wie der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi es einmal sagte, ErzieherInnen mit besonders ausgestatteten Ohren, Augen und Händen: Ohren, die auch das Unausgesprochene hören, Augen, die sehen können, was nirgendwo geschrieben steht, und Hände, die 100 Sachen machen können. ErzieherInnen, die, wie in der beschriebenen Pausensituation, ihren 100 Sprachen freien Lauf lassen und sie mit den 100 Sprachen der Kinder »vermischen«.
Wie z.B. Anja in der Essenssituation mit dem vierjährigen Lönne. Lönne war den ganzen Vormittag draußen spielen und nun gibt es endlich etwas zu essen. Es gibt Spa-ghetti und er scheint ungefähr genauso hungrig wie müde zu sein: »Anja, kannst du mir die Nudeln auf die Gabel tun?« Darauf Anja: »Meinst du so, dass es wie ein Wollknäuel aussieht?« Lönne grinst und sagt: »Oh ja, dann können wir doch jetzt einen Pullover stricken! Dafür brauche ich ganz viele Gabelknäuel Spaghetti!« Anja wieder: »Hm, wird das ein Pullover mit langen oder kurzen Ärmeln?« Lönne grinst: »Lange Ärmel und über’n Po!« Anja: »Dein Hunger ist richtig groß?« Genussvoll und grinsend öffnet Lönne seinen Mund.
Genau so geben wir Dialog Raum. In der Pause, in alltäglichen Situationen wie dem Mittagessen oder im freien Spiel. Kinder, selbst die Jüngsten, benötigen dafür keine Anleitung. Sie benötigen uns als die, die wir sind. Das größte Lernfeld dafür ist die Praxis! Sie steckt voller Überraschungen, macht neugierig und kann mehr Verständnis für die gutgemeinten Empfehlungen und Handlungsanweisungen der Bildungspläne wecken als jede Theoriestunde und stapelweise Lehrmaterial!
Freies Spiel
Es war mein erster Besuch in einer Krippe in Norddeutschland. Ich durfte mich frei in den Räumen bewegen. In einem Raum befand sich ein großer Baubereich und dort waren auch schon viele Kinder angekommen. Ich setzte mich auf den Fußboden und fing an, mit Bauklötzen zu spielen. Es brauchte keine zwei Minuten und Jan, zwei Jahre alt, kam zu mir und hielt mir einen Bauklotz hin. Ich bedankte mich und sah in sehr aufmerksame Augen. Wollte er wissen, ob ich mich darüber freue? Oder war es ein Angebot zusammenzuspielen? Kurze Zeit später waren drei weitere Kinder bei mir. Sie alle kannten mich nicht und hatten keine Berührungsängste. Ich blieb bei meinem Spiel und begleitete mein Tun mit Worten. Es war wunderbar zu erleben, welch soziales Verhalten eineinhalb- bis zweijährige Kinder leben. Sie boten sich als SpielpartnerInnen an. Die Spielsituation dauerte etwa 15 Minuten. Eine Erzieherin fragte mich belustigt, ob ich das öfter mache. Sie sei erstaunt, dass die Kinder so zutraulich zu mir gewesen seien. Ich sagte ihr, dass ich einfach nur gespielt habe. So konnten die Kinder entscheiden, ob sie den Kontakt zu mir haben wollen.
Dass wir Kinder zum freien Spiel einladen können, indem wir selbst eines beginnen, war ihr neu. Ihre Praxis ähnelte – wie sie es in der Ausbildung und in etlichen späteren Fortbildungen gelernt hatte – der einer Lehrerin, die bestimmt, mit welchem didaktischen Material sich die Kinder bilden sollen. In ihrer Praxis bleiben die Kinder passiv, weil sie nicht ihre 100 Sprachen spricht. Ohne Mimik, ohne Empathie, ohne Einfühlungsvermögen. Ohne Gefühl und ohne eigene Lust an der Sache. Ohne authentisches Interesse an den Kindern.
Bestes Elterngespräch
Eine Mutter erzählte mir, dass sie vor kurzem das beste Elterngespräch mit der Erzieherin ihrer jüngsten Tochter hatte. Sie war immer noch erfüllt von dem Gespräch. Die Erzieherin hätte ihre Tochter beschrieben, als ob die beiden eine echte Beziehung miteinander hätten und am Tag viel gemeinsam tun. Sie hätte im Gespräch oft lachen müssen, weil die Beschreibungen ihrer Tochter ihr so vertraut waren: »Ich bin nach dem Gespräch ganz glücklich nach Hause gegangen, weil ich fühlte, dass meine Tochter bei dieser Erzieherin in besten Händen ist!« Wie in der Pausen-, der Essens- und der Spielsituation haben wir das beste Elterngespräch den 100 gelebten Sprachen zu verdanken. Die emotionalen, sinnlichen und sprachlichen 100 Sprachen schaffen mehr Nähe und Vertrauen als die Besprechung von Entwicklungstabellen.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2021 lesen.