Spielen als Kraftquelle
Spielen als eine aus den eigenen Bedürfnissen heraus selbstgewählte Tätigkeit ist wie kaum eine andere dazu prädestiniert, Innere-Kind-Anteile wie Fantasie, Bewegungsfreude, Begeisterungsfähigkeit, Ausdauer, Neugierde und den Wunsch nach Gemeinschaft zu reaktivieren, zu stärken und nachzunähren. Das bringt eine neue Lebendigkeit in das Erwachsenenleben, das viel zu häufig durch Stereotype definiert und geprägt ist. Die Faszination, uns im Spiel immer wieder neu zu entdecken und lebendig zu fühlen, fördert unsere Kreativität, unsere Gesundheit und innere Balance und hebt unsere Interaktion mit Kindern auf Augenhöhe. Ein Plädoyer der Expertin für Personzentrierte Spieltherapie Sabine Weinberger zur Erweckung unseres Inneren Kindes.
Im Spiel lebt unsere Neugier zur Welt auf. Kinder öffnen sich diesen Erfahrungsraum leicht und wann immer möglich. Spielen ist ihre erste Natur. Eine biologische Notwendigkeit. Wie essen und trinken. Dass sich wesentliche Variablen des Lern- und Leistungsverhaltens spielerisch entwickeln, ist inzwischen durch neurobiologische Erkenntnisse untermauert.1 Im Spiel – und damit meine ich jede Form des Selbstausdrucks2 – erarbeiten sie sich die Welt und verarbeiten – insbesondere in den sogenannten »Alsob«-Handlungen – Eindrücke und Erlebnisse. In ihrem Tempo.
Ich spiele, ich falle
Der vierjährige Paul war von einer Schaukel gestürzt. Er hatte neben Abschürfungen an den Beinen und am Arm eine kleine Gehirnerschütterung davongetragen und war wochenlang nicht zu bewegen, sich auf eine Schaukel zu setzen, um zu schaukeln oder geschaukelt zu werden. Dann aber stapelte er im Kindergarten Polster zu einem kleinen Hügel. Er legte eine Matte vor die aufeinander gestapelten Polster, kletterte auf die Erhöhung und sagte: »Ich spiele, ich falle.« Tatsächlich ließ er sich ganz langsam von der Erhöhung auf die weiche Matratze fallen, kletterte danach mit Schwung wieder auf den kleinen Hügel und wiederholte das Spiel mit viel Spaß. Als die anderen Kinder das mitbekamen, machten sie sein »Ich falle« nach. Dann griff Paul ein weiteres Polster, machte den Hügel noch höher und spielte wieder »Ich falle«. Mehrmals wurde das wiederholt, bis Paul und die anderen Kinder sich wieder anderen Spielen zuwandten. Die Erzieherin berichtete mir später: »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, Paul weiß genau, was er will, deshalb habe ich da nicht eingegriffen. Am Wochenende darauf war er mit den Eltern und seinem zwei Jahre älteren Bruder auf einem Spielplatz. Dort kletterte er von sich aus auf eine Schaukel und fing an zu schaukeln, als wäre nie etwas vorgefallen.«
Den Alltag durchbrechen
Nicht nur für Kinder ist das freie Spiel der Königsweg, emotional belastende Erfahrungen zu verstehen, einzuordnen und zu bewältigen. Auch wir Erwachsene finden über das Spiel zu uns selbst und zu unseren Ressourcen, um den Herausforderungen und Widrigkeiten des Lebens erfolgreich zu begegnen.3 Erfahrungsräume zu öffnen, in denen der Weg das Ziel ist, fällt uns jedoch weniger leicht. Um uns mit der Kraftquelle Spiel – für uns selbst oder in der Interaktion mit einem Kind – zu verbinden, müssen wir vor allem eines: innehalten. Im Unterschied zu Ablenkung durch Konsum jeglicher Art oder durch rasche Informationsaufnahme rund um die Uhr bringt uns Entschleunigung in Kontakt mit uns selbst – mit dem spielenden Kind in uns. Der Psychoanalytiker C. G. Jung erfuhr die Zuwendung zum freien Spiel als Weichenstellung. Es war im Jahr 1912 und er Privatdozent an der Universität in Zürich, als er das Gefühl hatte, irgendwie festzustecken, nicht lebendig zu sein. Auf einmal fiel ihm ein, wie er als Junge mit ca. elf Jahren leidenschaftlich gerne mit Bausteinen gespielt und alle möglichen Bauten entworfen hatte. Da war die Lebendigkeit, nach der er suchte! Jung handelte konsequent und fing wieder an zu spielen, obwohl er es anfänglich als demütigend erlebte, sich als erwachsene Person wieder dem Spielen zuzuwenden. Nach dem Mittag- und Abendessen ging er täglich an das Ufer des naheliegenden Sees. Dort spielte und baute er selbstvergessen mit herumliegenden Steinen: »Dabei klärten sich meine Gedanken und ich konnte die Fantasien fassen, die ich ahnungsweise in mir fühlte.«4
Sabine Weinberger ist promovierte Psychologin und Autorin. Bis 2015 arbeitete sie als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis und war Lehrbeauftragte an Fachhochschulen für Soziale Arbeit und an der Universität Bamberg. Heute ist sie als Coach, Beraterin und Supervisorin tätig.
Kontakt
S.Schlippe-Weinberger@t-online.
1 Zimpel A. (2012): Lasst unsere Kinder spielen! Der Schlüssel zum Erfolg. Göttingen
2 Mit diesem weiten Verständnis schließe ich mich Gerald Hüther an, der im 2016, zusammen mit Christoph Quarch, publizierten »Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als Funktionieren ist« schreibt, dass Maler mit ihren Farben spielen, Musiker mit ihren Instrumenten, Dichter mit Worten, Tänzer mit Bewegungen, Bildhauer mit Holz und Stein etc. Damit unterscheiden wir Spiele im engeren Sinn – Kartenspiele, Brettspiele oder Sportspiele – vom Spiel im weiteren Sinn wie Malen, etwas Gestalten, Musizieren, Schneidern und so weiter. Die gemeinsame Klammer ist die selbstgewählte Tätigkeit, ausgehend von den eigenen Bedürfnissen. Das Medium ist zweitrangig, entscheidend ist die innere Haltung, mit der ich etwas tue. Es gibt kein »Muss«, sondern vielmehr eine intrinsische Motivation, eine »Lust«, sich einer Tätigkeit zuzuwenden.
3 Vgl. Weinberger S., Lindner H. (2020): Faszination Spiel. Wie wir spielend zu Gesundheit, Glück und innerer Balance finden. Berlin, S. 19 f
4 Jaffé A. (1986): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung. Olten, S. 178
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2021 lesen.