Impulse zu Vielfalt
Was hat es eigentlich mit dem Gefühl des Andersseins auf sich? Eine Erinnerung, eine Geschichte oder eine Einsicht dazu hat wohl jede:r. Manche bringen uns zum Schmunzeln. Andere machen uns nachdenklich. Einige ließen wir uns erzählen.
Das Eigene und das Andere
Reisen öffnen natürliche Laboratorien zur Erfahrung des Eigenen und des Anderen. Jedenfalls ist das meine Erfahrung. Mich interessiert das Andere und durch die Wahrnehmung des Anderen erkenne ich das Eigene. Wie z.B. kommt man ohne Ampel über die Straße in einer indischen Stadt? Warum gehen Inder:innen mühelos durch das ohrenbetäubende Chaos aus Motorrollern, Autos, Rikschas, Trucks, Fahrrädern, überladenen Karren mit Obst oder Gemüse und einer gelegentlichen Kuh? Es gibt keinen besseren Ort, kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung hautnah zu erleben. Oder ein anderes Beispiel: Wieso tauscht die knallharte und durchsetzungsfähige Politikerin an der Elfenbeinküste ihr schickes westliches Schneiderkostüm zu Hause gegen traditionelle Kleidung und bedient ihren Mann beim Mittagessen? Wo bleibt da die selbstständige und selbstbewusste Frau? In ähnlichen Situationen bekam ich von meinen indischen Kolleginnen zu hören, dass sie mit uns westlichen Frauen Mitleid haben, weil wir uns das Leben so schwer machen – wir würden uns in ein enges Gerüst aus Regeln, was zusammenpasst und was nicht, einsperren lassen. Warum soll man nicht das Eine mit dem Anderen verbinden? Wenn wir Verhalten von der Bewertung trennen, geht das ohne Problem. Und das ist der Schlüssel aller pädagogischen Arbeit: Neugier auf Anderes und das Andere nicht mit dem Eigenen bewerten!
Heidi Keller, Entwicklungspsychologin
Ich sein
Im beschaulichen Rheinland und durch einen Umzug dann Siegerland wuchs ich heran, in dem Wissen, anders als die anderen Jugendlichen zu sein. Ich litt darunter und verbarg meine Gefühle. Zunächst hatte ich keine Worte dafür, was mit mir los war. Mein Körper veränderte sich durch die Pubertät, aber nicht so wie bei den Mädchen. Nur heimlich im Verborgenen konnte ich Ich sein – eine junge Frau. Nach außen hin spielte ich eine Rolle – die des Sohnes und jungen Mannes. Doch ich scheiterte an mir selbst, denn das Doppelleben forderte seinen Tribut. Ich erlebte eine Krise und fand schließlich heraus, was mit mir los war: Ich bin transident. Einer lesbischen Mitschülerin offenbarte ich mich schließlich, denn wir waren beide in den Augen der konservativen Dorfgemeinschaft irgendwie »anders«. Meiner Familie sagte ich aus Angst zunächst nichts, weil mir Ablehnung und auch Gewalt drohten. Durch den Kampf mit mir selbst verlor ich meine Ausbildungsstelle und entschied mich, an die Universität zu gehen und von zu Hause auszuziehen. Ich wollte weg und ich sein können. Später im Studium fand ich Freund:innen, die mir halfen, sodass ich im Studierendenwohnheim und der Uni endlich offen leben konnte – ohne Angst, dass mein Vater abends in der Haustür steht. Ich wurde als die Frau gesehen, die ich bin, und gehörte endlich dazu. Später erfolgten auch die rechtliche Anerkennung durch den Staat und geschlechts-angleichende Maßnahmen, um den inneren Leidensdruck des Andersseins zu lindern. Heute weiß ich, dass Transidentität eine Normvariante der geschlechtlichen Entwicklung ist. Meine damalige Mitschülerin und ich sind nicht »irgendwie anders«, sondern besonders und wertvoll. Wie jede:r auf seine eigene Art und Weise.
Jenny Wilken, Diversity-Coach
web: jennywilken.jimdofree.com
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2022 lesen.