Professioneller Körpereinsatz in der Kita
Jede und jeder im pädagogischen Bereich kann beobachten, dass Kinder »körperlich« sind. Untereinander, aber auch im Umgang mit uns Erwachsenen. Darüber, wie wir damit adäquat
umgehen können, herrscht jedoch viel Unsicherheit und auch in der pädagogischen Ausbildung sucht man diesen Aspekt vergebens. Der Pädagoge Steve Heitzer lädt zum professionellen Körpereinsatz ein. Auch in konflikthaften Situationen.
Wer mit Kindern zu tun hat, bekommt es mit Körperlichkeit zu tun. Eine Vorstellung von der Tiefe und Tragweite dieser Erfahrungs- und Begegnungsebene bekam ich vor vielen Jahren: Ein Fünfjähriger spielt mit seinem sechsjährigen Kumpel, hat aber nebenbei Zeit, einen Dreijährigen zu provozieren. Der steigt gern auf den Kampf ein und es entsteht ein Gerangel. Ich begebe mich ins Getümmel der beiden Jungs. Es entsteht ein Balgen und Spiel mit mir, in dem sich der Kampf bzw. das Gegeneinander allmählich in ein Miteinander auflöst. Als das Spiel mit mir ein Ende findet, geht der Ältere auf den Jüngeren zu, um zu fragen, ob er ihm beim Bau seiner Bärenhöhle helfen soll, die er vor dem Konflikt zu bauen angefangen hatte. Die beiden bauen und spielen schließlich zusammen.
Professioneller Körpereinsatz oder professionelle Distanz?
Das Lernfeld im Umgang mit Körperlichkeit ist groß und ich gehe so weit, von Professionalität im Zusammenhang mit
Körpereinsatz zu sprechen – wohl wissend, dass in der Ausbildung oft noch immer einseitig von »professioneller Distanz« die Rede ist. Professionelle Begleitung muss jedoch darüber hinausgehen, Kindern Grenzen zu setzen und ihre Konflikte ausschließlich verbal zu schlichten. Achtsamer Umgang miteinander – auch körperlich – ist eine Kompetenz, die Kinder erwerben sollten. Und das können wir ihnen nicht mit Worten beibringen, dafür müssen wir uns als Modell einlassen und ihnen die Möglichkeit geben, achtsames körperliches Miteinander zu erfahren.
Dafür sind wir herausgefordert, immer wieder genau wahrzunehmen, was Kinder warum tun und was sie brauchen,
und uns darin zu üben, uns selbst körperlich einzubringen. Bei den kämpfenden Jungs ahnte ich ihr großes Bedürfnis,
sich und andere zu spüren und körperlich miteinander zu werden. Weil in unserer Kultur bereits Fünfjährige oft schon verlernt haben, auf ihre Weise zu spielen, provozieren sie nicht selten Kampf, um ihren – eben auch körperlichen – Entwicklungsbedürfnissen nachzukommen. Setzen wir ihnen vermeintliche Grenzen oder stellen wir sie bzw. ihren Kampf lediglich ab, geben wir ihrem Bedürfnis keinen Raum und wenig später provozieren sie vielleicht bereits den nächsten Kampf.
Die Arbeit mit Kindern ist etwas Wunderbares und stellt uns tagtäglich vor entscheidende Fragen wie:
- Öffnen wir uns dafür, Dinge und Situationen immer wieder
neu zu sehen und tief genug zu schauen? - Gehen wir den Schritt von der Erziehung zur Beziehung
ganz konkret und nicht nur als schönen Gedanke im Kopf? - Gehen wir den Schritt von der Einbahnstraße pädagogischer
Anliegen und Bildungsmaßnahmen zu einem Wechselspiel
mit der Einsicht, dass auch wir viel lernen können? - Lassen wir uns berühren?
Noel stört
Zwei Kindergartenkinder sind beim Aufräumen ihrer großen Holzklötze, die auf einem Teppich verstreut liegen. Sie beschweren sich bei mir, dass Noel sie stört. Als ich hinschaue, sehe ich ihn mitten auf den Klötzen liegen. Ich sage ihm, er soll da weggehen. Erst beim dritten Mal steht er auf. Doch statt wegzugehen, legt er sich direkt vor das Regal, in das die beiden anderen Kinder die Klötze einsortieren wollen. Mein erster Gedanke war: Warum müssen manche Kinder immer stören? Damit tappte ich in die Falle meines Geistes, der die rote Lampe mit der Aufschrift »Störung« angeknipst hatte und mir einredete, Noel wolle nichts anderes als provozieren.
Mein Körpereinsatz gestaltete sich entsprechend unprofessionell: Ich ziehe Noel sanft, aber bestimmt aus der Gefahrenzone. Weil er merkt, dass ich mich von ihm genervt fühle und kein bisschen verstehe, was er eigentlich braucht, steigt er auf den Kampf ein, den ich eröffnet hatte, und beginnt nach mir zu treten. Wenig später wurde mir klar, dass ich mit meinem ersten Gedanken, Noel wolle provozieren, ziemlich daneben gelegen hatte. Es ging ihm an diesem Tag gar nicht gut. Er sah ähnlich »zerfleddert« aus wie sein kleines Kissen, an dem er kaute und das schon ganz nass war. Was er eigentlich ausdrücken wollte, war wohl »Ich störe nicht, ich will spielen!« und sein Bedürfnis, sich und Andere körperlich zu spüren.
Bereits sein Liegen auf den Holzklötzen könnte neben einem zugegebenermaßen eher ungeschickten Versuch mitzuspielen, auch auf das Bedürfnis, sich zu spüren, verweisen. Noel stimulierte seinen Körper beinahe wie ein Fakir auf dem Nagelbrett. Die Botschaft seiner »Provokation schlechthin«, sich vor das Regal zu legen, in das die Kinder die Klötze einsortieren wollten, wirrkt aus dieser Sicht geradezu genial: Was passiert, wenn die Kinder ihre Klötze ins Regal räumen? Sie müssen sich mit jedem Klotz, den sie einsortieren, über ihn drüberlegen. Kinder stellen solche Situationen gar nicht so selten her. Auch sich am Ende eines Rutschbrettes hinzulegen oder unter eine Hängematte, könnte durchaus nicht einfach als Störung gelesen werden, sondern ebenso gut als Einladung an Andere, in sie hineinzurutschen oder auf sie drauf zu fallen. Meine Geschichte mit Noel war keine Erfolgsgeschichte und dennoch lerne ich bis heute daraus.
Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Pädagoge und Autor des Buches »Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit«. Er arbeitet seit 20 Jahren mit Kindern, lebt in Innsbruck und ist selbst Vater von drei Kindern.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2022 lesen.