Mit Kindern einen Friedhof erforschen
Ein Friedhof ist ein besonderer Ort, um mit Kindern das Leben und den Umgang mit dem Tod zu erforschen, Gefühlen zu begegnen und sich selbst besser kennenzulernen. Zudem können wir hier neue Wege finden, Namen und Zahlen in verschiedenen Schriftarten entziffern, Lebensalter ausrechnen, Pflanzen und Tiere entdecken, die sich fern des Alltagslärms angesiedelt haben. Johanna Pareigis ist Biologin und Friedhofsgärtnerin. Bei ihrer Bildungsarbeit mit Kindern und Erwachsenen ermöglicht sie Erfahrungen und Erkenntnisse besonders gern durch Outdoor Education, dem Lernen im Freien.
Das hat es früher nicht gegeben!
Ich höre eine wütende Stimme und schaue in das Gesicht eines älteren Mannes, knapp älter als ich selbst. »Wie können Sie das den Kindern antun? Und dieser laute Zirkus hier auf dem Friedhof ... Kinder gehören nicht hierher!« »Ja, genau«, sage ich. »Das hat es früher so nicht gegeben. Und genau deshalb sind wir mit den Kindern hier. So lernen sie und wir Erwachsenen übrigens auch, dass der Friedhof ein friedvoller und spannender Ort ist. Wollen Sie sagen, dass unsere Arbeit ›Zirkus‹1 ist?« »Nein«, sagt der Mann etwas verlegen. Ich lade ihn ein, sich zu uns zu stellen, mitzumachen und zu erleben, wie wir den Friedhof erforschen. Im Kreis stehend schließen wir, zusammen mit dem Mann, die Augen und beginnen noch einmal mit unserer Anfangsmeditation. Wir nehmen diesen besonderen Ort erst einmal wahr und lassen unsere Gedanken weiterziehen – wie den Luftballon, den wir in unserer Vorstellung in den Himmel fliegen lassen. Der Mann bleibt eine Zeit bei uns. Er erlebt, wie still, konzentriert und doch lebendig die Kinder den Friedhof entdecken. Später erzählt mir der Mann über seine Kindheit und seine Enkel und lächelt. Als er sich verabschiedet, bedankt er sich bei uns, dass er dabei sein konnte.
Ein Friedhof ist ein Ort, der für Endlichkeit steht und auch für turbulente Gefühle. Hier werden Tote begraben und mit ihnen auch gemeinsame Erinnerungen, Wünsche und Hoffnungen. Und manchmal, wenn wir am Grab des verstorbenen Menschen stehen, kommt uns alles wieder in den Sinn. Was dabei pietätvoll ist und was nicht, lehrt uns unsere jeweilige Kultur. In Mexiko z.B. wird auf dem Friedhof Musik gemacht, getanzt und gegessen, wenn alle dort am »Dia de los Muertos« (Tag der Toten) zusammen mit den Seelen der Verstorbenen feiern. »Wir reinigen diese Orte mit Fiesta, mit unseren Festen«, erzählte mir mein Freund Freddy aus Lateinamerika. Und die Kinder sind, wie alle anderen auch, immer dabei. In einigen Gebieten Indonesiens sind die Mumien der Verstorbenen Teil des täglichen Lebens. Sie werden gekleidet und immer wieder besucht (vgl. Doughty 2019). Zu anderen Zeiten war der Friedhof auch bei uns lebendiger: Im Mittelalter wurde auf dem Friedhof gelebt, geliebt und sogar gehandelt (vgl. Aries 2005). Ab dem 19. Jahrhundert wurden mit der Auslagerung des Friedhofs an den Dorf- oder Stadtrand auch die Gefühle rund um den Tod verdrängt. Weil wir Teil unserer Kultur sind, können wir diese bewusst weiterentwickeln. Wir können uns von den lebensfrohen Riten anderer inspirieren lassen, von Neuentwicklungen – z.B. von der naturfreundlichen Kompostierung menschlicher Leichname2 – oder von eigenen Ideen für emotional gesündere Umgangsweisen mit dem Tod. Auch dafür besuche und erforsche ich den Friedhof als Kultur- und Bildungsort mit Kindern und Erwachsenen.
Schon als Kind dabei
Ich war schon als Kind oft auf dem Friedhof. Einmal, um mich von dem Leichnam meines toten Opas zu verabschieden, oft, um mit meiner Oma sein Grab zu pflegen und Muster in den Weg um das Grab herum zu harken, und manchmal, um einfach mit meinem Vater spazieren zu gehen. Wir haben die leckeren Esskastanien gesammelt und geredet. Ich konnte und kann gut reden mit meinem Vater, besonders an solch einem besinnlichen Ort. Nach der Schulzeit machte ich eine Lehre als Gärtnerin auf dem Friedhof und lernte, an diesem erholsamen Ort zu allen Jahreszeiten in der Natur zu arbeiten. Friedhofsgärtner:innen sind übrigens keine traurige Truppe, sondern meist ein fröhlicher Haufen Menschen, die die Ärmel hochkrempeln, gut arbeiten und auch gut feiern können. Die Trauer der Friedhofsbesucher:innen ist Teil ihres Alltages, ihres Leben. Als ich später mit meinen eigenen sehr jungen Kindern zum ersten Mal »einfach so« auf den Friedhof ging, hatte ich Bedenken, ob das in Ordnung sei. Diese Zweifel zerstreuten sich. Wir lasen Bilderbücher und picknickten sogar dort. Meinen Kindern hat es gefallen und den Kindern, mit denen ich im Rahmen meiner Bildungsarbeit auf den Friedhof gehe, gefällt es auch.3
Weil es meistens die Erwachsenen sind, die diesbezüglich Befürchtungen haben, gebe ich dazu Fortbildungen für Pädagog:innen. Ich liebe diese Veranstaltungen ganz besonders: Es sind Treffen mit Menschen, die bereit sind, sich zu öffnen und sich selbst und einander näher zu kommen und nahe zu sein. Eine von ihnen oft gestellte Frage ist »Kann ich mich mit Kindern einfach auf den Weg machen?« Die schlichte Antwort ist: »Geh einfach los.« Die meisten jungen Kinder sehen in den Dingen, also im Grabstein oder in der toten Maus auf dem Weg, was sie sind: einen Stein und eine tote Maus. Ältere Kinder jedoch sind schon mit den Regeln um sie herum vertraut und geben auf die Frage, wie man sich auf dem Friedhof benimmt, oft dieselben Antworten wie Erwachsene: Nicht schreien, nicht rennen oder nichts von den Gräbern nehmen. Manche Kinder sagen auch, dass man die Grabsteine nicht umkippen und auch nicht weinen dürfe.
Johanna Pareigis, Dr. rer. nat., ist Biologin, Gärtnerin, Pädagogin, Coach, Autorin und zertifiziert als Kulturvermittlerin sowie als NUN-Bildungspartnerin für Bildung für Nachhaltige Entwicklung. 2018 hat sie »Die Bewegung LERNEN im Freien« ins Leben gerufen.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2022 lesen.