Kindern eine Stimme geben
Musik, Lieder und Fingerspiele begeistern die Kinder und gehören zu jedem Kindergarten. Doch wie ist es, wenn jeden Tag musiziert wird? Bleibt der Zauber der Musik erhalten? Haben die Kinder irgendwann genug davon? Oder wird die Musik ein Freund, der sie begleitet? Das herauszufinden, haben sich die Pädagog:innen des MusikKinderGartens Weimar mit ihrer Leiterin Sandy Thiele vor 20 Jahren auf den Weg gemacht.
Wie jeden Morgen kommen auch heute alle 40 Kinder im Kreis zusammen, und eines unserer Lieder erklingt. Da fragt Jakob: »Wie klingt denn eigentlich die Luft?« Wir überlegen. Tom klopft mit den Fingern in seine Handfläche, das klingt wie Regen. Hm, aber wie klingt Luft? Die Kinder pusten, wir lassen einen Luftballon »singen«, indem wir seine Öffnung zuhalten und die Luft hinauslassen – klingt nicht so schön. Wir öffnen die Türen und lauschen nach draußen. Da hören wir die Luft. Welche Klänge hören wir und wie können wir solche Klänge erzeugen? Welche Instrumente können uns dabei helfen? Den Kindern fällt spontan ein Lied ein: »Fliegen, fliegen hoch hinaus, wir schauen auf die Welt hinab …«, singen sie. Einige Kinder breiten ihre »Flügel« aus und beginnen zu fliegen.
Diese elementare Verbindung zwischen Klang, Bewegung und Gesang macht für uns das Wesen der musikalischen Arbeit mit Kindern aus. Musik ist selbstverständlicher Lebensbestandteil der Kinder – ein Freund an ihrer Seite. Mit dieser Vision hat unser kleiner Verein vor über 20 Jahren den Kindergarten aus kommunaler Trägerschaft übernommen und das Konzept des MusikKinderGartens verwirklicht. Bei uns sind Kinder aller sozialen Schichten und unabhängig von ihrem körperlichen und geistigen Entwicklungsstand willkommen.
Musik gibt Kindern eine Stimme
Die Kinder sind im Garten versammelt, als Lukas, ein mehrfach schwerbehindertes Kind, nach längerer Krankheit wieder in den Kindergarten kommt. Spontan stellen sich die Kinder zu einer Gasse auf und stimmen ein Begrüßungslied an. Es ist für sie eine ganz normale Möglichkeit, ihre Freude zu zeigen und ihm eine Freude zu machen, da sie wissen, wie stark er auf Musik reagiert. Sie haben beobachtet, wie er lacht und die Arme nach oben streckt, wenn die Erzieher:innen sein Lieblingslied anstimmen. Sie wissen auch, dass Lucas genau beobachtet, wenn die Kinder musizieren, und dann auf sie zu gekrabbelt kommt und sich freut. Dieses Beispiel zeigt, wie tief Kinder die Musik berührt. Sie können sich durch Musik und Klänge ausdrücken, wie es ihnen sonst nur schwer möglich ist. Sie können sich auf einer Ebene verständigen, die alle Kinder verstehen. Als neulich der kleine Kurt, der erst kurze Zeit den Kindergarten besucht, im Morgenkreis zu weinen beginnt, rutschen die älteren Kinder neben ihn, streicheln seinen Rücken und fordern die Erzieher:innen mit Blickkontakt und Bodypercussions auf, die Gitarre zu spielen. Dann beginnen sie zu singen: »Dum dida didum dida …« Das Lied hatten wir kurz vorher gemeinsam gesungen, und die Kleinsten hatten viel Freude daran. So konnte auch Kurt wieder froh gestimmt werden. Als er etwas später wieder begann zu weinen, wollte die Erzieherin mit ihm aus dem Raum gehen. Doch auch da half es ihm, als die Kinder anfingen »Hallo, hallo, schön, dass du da bist …« zu singen.
Musik ist für uns keine Nebenbeschäftigung, sondern wesentlich für die Entwicklungsförderung, da sie den Kindern eine Stimme und Ausdrucksmöglichkeiten verleiht. Eine solche Möglichkeit sich auszudrücken haben wir bei Noel erlebt. Er ist ein sehr leises zweijähriges Kind, das sich wenig bewegt, aber sehr interessiert und offen alles beobachtet. Sprachliche Kommunikation sucht er nur mit seiner Lieblingsbezugsperson und seiner besten Freundin. Sonst ist er äußerst schüchtern und zurückhaltend. Im Musikangebot war er sehr von den Musikinstrumenten angetan, besonders die Wah-wah-Klangröhren faszinierten ihn. Wir haben an seiner Handhabung gemerkt, wie genau er das Musizieren der großen Kinder mit diesen Instrumenten beobachtet hatte. Es war erstaunlich zu sehen, wie er damit Töne machen und modellieren konnte. Zum ersten Mal erzeugte er von sich aus Töne und fühlte sich dabei völlig wohl. Deshalb bekam er in den nächsten Tagen Gelegenheit, das Spielen im Alltag weiter auszuprobieren. Er traute sich dann sogar, im Morgenkreis vor allen Kindern zu spielen. Er hatte Spaß daran und genoss die Bewunderung der größeren Kinder, die wissen, wie schwer das Wah-wah-Spielen ist.
Um solche Momente erleben zu können, ist es wichtig, dass unser Kindergarten ein Ort ist, in dem der Umgang mit Kunst und Kultur für die Kinder selbstverständlich ist. Voraussetzung für die Realisierung unserer Idee ist, dass alle Pädagog:innen »mitspielen« und die Musik als Bereicherung empfinden. So kann sie auch den ganzen Alltag durchziehen.
Sandy Thiele ist Erzieherin und seit 30 Jahren Kindergartenleiterin.
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Vasiliki Psyrra hat Akkordeon (Dipl.) in Griechenland studiert und einen Masterstudiengang Elementare Musikpädagogik/ Rhythmik an der HfM »Franz Liszt« in Weimar absolviert. Sie arbeitet als Dozentin und Musikpädagogin in verschiedenen Institutionen und ist seit 2013 Musikpägdagogin im MusikKinderGarten Weimar.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2023 lesen.