Neustart in Cuxland
Seit Maik Wolter die Leitung der Kita Deichbutjer übernahm, weht ein neuer Wind durch die kleine, nördlich von Bremen gelegene Ortschaft Wersabe. Als unsere Redakteurin Jutta Gruber erfuhr, dass sich das Dornröschen im dortigen Rollenspiel weigerte, den Prinz zu küssen, machte sie sich auf den Weg in den hohen Norden. Vor Ort überzeugte sie sich davon, wen und was der neue Wind noch so alles aufgewirbelt hat.
Als ich eines schönen Morgens in Bremen auf dem Beifahrersitz neben Maik Wolter Platz nehme, habe ich keine Ahnung, welch atemberaubende Geschichte ich gleich hören werde. In knapp 40 Autominuten bis zur Kita Deichbutjer ziehen grüne Landschaften und sechs aufregende Jahre an uns vorbei. Maik Wolters Geschichte beginnt 2018, als der gebürtige Berliner nach 15 Jahren Baden-Württemberg in den hohen Norden zieht. »Meine Schwester lebte hier oben und meine Frau und ich haben irgendwann bemerkt, dass es uns an der See einfach gut gefällt. Als ein Resthof zum Kauf angeboten wurde, haben wir nicht lange gezögert.« Aufgrund des schon damals akuten Fachkräftemangels fanden beide problemlos einen Job. »Meine Frau als Erzieherin in einem Hort und als Fachkraft für Sprache in zwei Kitas und ich zunächst als Springkraft für die Einrichtungen der Gemeinde Hagen im Bremischen.« Als er bereits im Personalrat aktiv war und im kleinen Ort Uthlede gerade einen Hort aufgebaut hatte, kam es im Spätsommer 2021 in einer Einrichtung des noch kleineren Ortes Wersabe zu Problemen.
In dreißig Tagen zur neuen Normalität
»Es standen Vorwürfe im Raum, dass Kinder, die nicht essen wollen, an ihre Stühle fixiert wurden. Aber wie immer hatte niemand wirklich etwas gesehen.« Es brauchte ein halbes Jahr, eine Menge schlechte Presse und einen neuen Personalchef, bis Maik Wolters Idee, das gesamte Team auszutauschen – »dann ist keine:r schuld und keine:r bekommt irgendeinen Stempel auf die Stirn« – Gehör fand. Ab da sei dann aber auf einmal alles ziemlich schnell gegangen: »Gerade mal zwei Wochen nachdem Martin Leying Anfang Februar 2022 die Stelle des Personalchefs übernommen hatte, bat er mich zu sich, um meine Ideen zu hören. Erfreulicherweise teilte er die Meinung seiner Vorgängerin, das Team in Wersabe müsse mit seinen Problemen selbst klarkommen, ganz und gar nicht.« Weil er mit einer Reaktion in diese Richtung gerechnet hatte, habe ihn das kurze wie knappe Fazit des Personalleiters – »Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den Job« – auch nicht völlig überrascht. »Zu diesem Zeitpunkt war auch die Presse ein nicht unwesentlicher Katalysator. Es gab eine Menge Berichte von RTL bis zur Nordseezeitung, dass die unklare Situation unverändert sei und der Träger stillschweigend alles hinzunehmen scheine. Manchmal standen Fotograf:innen auf dem Deich, unmittelbar hinter der Einrichtung.« Maik Wolter nahm die Herausforderung an. »Mit unserer Vorstellung von einem Zeitfenster von anderthalb Monaten, um alles für den Austausch vorzubereiten, hatten wir die Rechnung jedoch ohne den Bürgermeister gemacht.« Der bestand nämlich auf einen Start bereits zum 1. März.
Geradeaus denken
»Meine Ideen innerhalb von zwei Wochen umzusetzen, war sportlich, aber nicht unmöglich, weil ich bereits im Vorfeld vertraulich Kolleg:innen angesprochen hatte, ob sie in mein Team kämen, falls der neue Personalchef den kompletten Austausch befürwortet.« Ein Glücksfall war, dass er während der Zeit als Vertretungskraft viele Kolleg:innen in verschiedenen Einrichtungen und auch andere Vertretungskräfte kennengelernt hatte. »Ich habe mir diejenigen ausgesucht, von denen ich wusste, dass sie geradeaus und auf eine gesunde Weise anders denken und gut mit mir arbeiten können und von denen ich mir vorstellen konnte, dass sie auch gut miteinander arbeiten können.« Innerhalb einer Woche stand sein neues Team. Damit der Übergang den Umständen entsprechend weich vor sich geht und die Kinder am Tag 1 zumindest ein bekanntes Gesicht vor sich haben, arbeitete Maik Wolter bereits in der letzten Februarwoche in der Einrichtung. Offiziell als Vertretungskraft. »Am Freitag den 25. Februar erhielten die Eltern eine Einladung vom Träger zu einem Sonderelternabend für den 28. Februar. Zur Schließzeit um 15 Uhr des 28. Februar erfuhr das alte Team von der Maßnahme des kompletten Austauschs und wer ab dem nächsten Tag in welcher Einrichtung arbeiten wird. Gegen 19 Uhr erfuhren die Eltern, dass die Menschen, die jetzt vor ihnen sitzen, ab morgen das neue Team bilden.« Niemand habe bis dahin von dem bevorstehenden Tausch gewusst. Lediglich die Presse habe man im Vorfeld informiert und gebeten, die Nachricht erst am Tag darauf und nicht bereits im Vorfeld rauszugeben. »Das Ganze war also wirklich gut durchgeplant – und zwar zum Wohle der Kinder, der Eltern und der Fachkräfte.«
Besser als gedacht
Die Kinder hätten mit der neuen Situation das geringste Problem gehabt. »Sie brauchten eigentlich nur ein paar Tage, bis sie sich an alles gewöhnt hatten. Extreme Wechsel waren sie ohnehin schon gewöhnt, weil aufgrund des hohen Krankenstandes ständig irgendwelche Vertretungskräfte da waren.« Ihre Eltern hätten definitiv das größere Problem gehabt, die Veränderung mitzutragen. »Beim Elternabend gab es von einigen Applaus, weil der Träger endlich gehandelt hat, andere aber machten sich eher Sorgen um ihr Kind. Am Ende aber lief es auch für sie mit der Umstellung besser als gedacht.« Das Team komplett auszutauschen, sei schon ein ziemlich revolutionäres Denken gewesen. »Meiner Meinung nach war es echte Rücksichtnahme und Inschutznahme der Mitarbeiter:innen. Es war richtig, dass wir so gehandelt haben und eigentlich hätte man schon viel früher handeln müssen.« Die Problematik sei ja bereits im Jahr zuvor aufgetreten und über die Presse auch bekannt gemacht worden, »also gegen Ende der Pandemie, was die ganze Situation auch nicht einfacher machte. Die Eltern waren verunsichert – und mit ihnen natürlich auch die Kinder. Das ganze Team stand unter Verdacht. In der Bringsituation guckten die Eltern schief um die Ecke, um zu sehen, wer da ist. Die Situation war für niemanden einfach.« Die Fachkräfte konnten fast 1:1 auf die Stellen verteilt werden, von denen Maik Wolter sein Team zusammengeholt hatte. »Alle haben sich, soweit ich das weiß, gut eingelebt. Keine:r ist entlassen worden und die Vorwürfe wurden inzwischen von der Staatsanwaltschaft fallengelassen.«
In der zwischen Bremen und Bremerhaven, direkt am Weserdeich gelegenen Kita Deichbutjer betreuen sieben Erzieherinnen und zwei Erzieher sowie wechselnde Praktikant:innen und Personen im Bundesfreiwilligendienst insgesamt 37 Kindergartenkinder und 15 Krippenkinder. An seinem handverlesenen Team schätzt Leitung Maik Wolter, dass alle anders, aber auch geradeaus denken können und stets bereit sind, Neues zu wagen und keine Angst haben, anzuecken. Das Team der Kita Deichbutjer arbeitet komplett offen nach dem infans-Konzept (INstitut Für ANgewandte Sozialisationsforschung). Die Kindergarten- wie auch die Krippenkinder sind von Anfang an mit allen Kindern und Erwachsenen vertraut und können jederzeit selbst entscheiden, mit wem und wo sie agieren. Einen Einblick in die Kita, die Kinder und Eltern gern als »Wohlfühlort« bezeichnen, und wie es dazu kam, dass bei ihnen der Prinz das Dornröschen mit dem Wecker und nicht mit einem Kuss weckt, bietet die NDR-Reportage »Kinder an die Macht«: Märchen-Kritik in der Kita (in der ARD-Mediathek verfügbar bis 19.09.2025).
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/2024 lesen.