Wer sich die Mühe macht, das System der Kindertagesbetreuung (Early Childhood Education and Care) in Deutschland zu verstehen, wird in Unübersichtlichkeit und Gegensätzen verstrickt und muss schließlich feststellen: die Situation ist verschieden, je nachdem wohin er blickt und wen er fragt.
Öffentliche Verantwortung – Subsidiarität als Staatskonzept
Deutschland ist ein Bundesstaat, in dem die sechzehn Bundesländer zwar Teile ihrer Souveränität an den Bund abgegeben haben, aber ihre Staatlichkeit mit eigenen Organen und eigenen Kompetenzen behalten. Während z.B. Kultur und Bildung in der Hoheit der Länder liegen und der Bund dort fast keine Zuständigkeiten besitzt, darf er bei der Kindertagesbetreuung den Rahmen vorgeben, den die Länder auszufüllen haben. Die Kindertagesbetreuung wird als Teil der öffentlichen Fürsorge verstanden; für sie gilt eine geteilte Verantwortung.
Jedes Land verabschiedet zur Ausführung des Bundesgesetzes sein Landesgesetz, das in geringem Maße vom Bundesgesetz abweichen darf, – verantwortlich aber für die Durchführung und für die Sicherstellung der Finanzierung der Kindertagesbetreuung sind aber nicht die Länder, sondern die Ebene »darunter«, die Kommunen.
Doch auch die kommunale Ebene ist in sich weiter untergliedert. Ihre kleinste Einheit ist die Gemeinde – das Dorf oder die Stadt. Sie ist nach unserem Verfassungsverständnis der Kern des Staatswesens. Als kleinste öffentliche Einheit hat die Gemeinde das Recht auf Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten. Zur Durchführung der Aufgaben, die hier nicht sinnvoll oder wirtschaftlich zu erfüllen sind, bilden sie Gemeindeverbände. Auch die Landkreise sind Gemeindeverbände, die aber nicht nur Verwaltungsaufgaben ihrer Gemeinden bündeln, sondern eigene Gebietskörperschaften mit Hoheitsrechten sind. Hier liegt die Zuständigkeit für die Kindertagesbetreuung.
Im Gegensatz zu Zentralstaaten, bei denen alle wesentlichen Entscheidungen an der Spitze des Staates getroffen und dann durch die unteren Ebenen administriert werden, ist in Deutschland im Grundsatz die kleinste Ebene verantwortlich. Zuständigkeiten sind nur auf übergeordnete Ebenen verlagert, wenn sie die Leistungsfähigkeit der unteren Einheit übersteigen. In der Praxis wurden, auch durch den europäischen Einigungsprozess bedingt, immer mehr Zuständigkeiten beim Bund zentralisiert oder Verantwortung durch Bund und Länder gemeinsam getragen.
Die Idee hinter der Dezentralität ist, dass die Menschen in ihrer Gemeinde ihre Angelegenheiten weitgehend selbst regeln sollen. Nur für Unterstützung und übergreifende Aufgaben tragen höhere Instanzen Verantwortung. Dies ist Subsidiarität als Staatskonzept.
Private Verantwortung – Subsidiarität in der Kinder- und Jugendhilfe
Eines der wichtigen Grundprinzipien der Kinder- und Jugendhilfe, das zusammen mit dem Prinzip der Vielfalt von Angeboten und Anbietern ihren Organisationsaufbau gestaltet und die Zuständigkeitsverteilung wesentlich bestimmt, ist ebenfalls das Subsidiaritätsprinzip – allerdings mit einem besonderen inhaltlichen Beiklang. Neben seinem Kern als Prinzip der Dezentralisierung ist es gleichzeitig zu verstehen als Abwehr von staatlicher Bevormundung. Es hat seine Wurzeln in der katholischen Soziallehre und ist auch Ausdruck für den Kampf um eine freie und unreglementierte Betätigung der Bürger, ihrer Verbände und der Kirchen.
Im Zentrum steht die Familie, der zugetraut und zugemutet wird, im Grunde alle sozialen Belange ihrer Familienmitglieder zu befriedigen. Erst wenn sie dies nicht kann, soll der freiwillige Zusammenschluss von Menschen in Vereinen und Verbänden, die politische und die kirchliche Gemeinde sich der sozialen Aufgaben annehmen und sie in eigener Verantwortung und eigener Befugnis erledigen. Die größere Einheit (der Staat) tritt unterstützend ein, wenn eine kleinere überfordert ist, ihre Aufgaben ohne Hilfe von außen zu erfüllen. Der Staat soll sich dabei auf seine Unterstützungs- und Förderungsaufgabe beschränken und sich nicht zu stark einmischen. Dieses Prinzip soll die Bürger und ihre Verantwortlichkeit stärken.
Das sich hier ausdrückende Familien- und Gesellschaftsbild ist keineswegs mehr unumstritten; es ist heute in Deutschland nicht einmal mehr vorherrschend. Trotzdem ist es in seinen rechtlichen und tatsächlichen Folgen immer noch wirksam, wie die immer noch unzureichende Angebote für Kleinkinder und Kinder im Grundschulalter zeigen.
Die DDR hatte mit diesem Familien- und Gesellschaftsbild aus der gemeinsamen Vergangenheit so radikal gebrochen, dass zuweilen die Auffassung vertreten wird, hier wäre die staatliche und die private Verpflichtung umgekehrt worden. Immerhin aber hatte das umfassende Angebot an Plätzen für Kinder von null bis zehn Jahren in der DDR (in dessen Folge noch heute die östlichen Bundesländer eine sehr viel bessere Versorgung mit Plätzen haben) nach der Vereinigung tiefgreifende Auswirkungen auf Westdeutschland gehabt: Wenn heute der Platzausbau auf der Agenda in Deutschland steht, so ist dies auch eine Folge der Vereinigung. Und dass über eine neue Balance zwischen öffentlicher und privater Verantwortung diskutiert wird, ist eine Folge der unterschiedlichen Antworten, die die beiden deutschen Staaten auf diese Frage hatten.
Eine Bewertung des Subsidiaritätsprinzips kommt zu durchaus zwiespältigen Ergebnissen:
- Einerseits ist der Gedanke der Dezentralität von Entscheidungen sehr modern; mit ihr soll Verantwortlichkeit des Einzelnen gestärkt, sollen staatliche Eingriffe zurückgedrängt sowie Bevormundung verhindert werden. Jede Übernahme von Aufgaben durch den Staat bedeutet ein Aufgaben- und Bedeutungsverlust für den Einzelnen. Jede Fürsorge führt zu einem Verlust von Eigenverantwortung, selbst wenn sie wohlgemeint ist. Wer versorgt wird, wird nicht nur geschützt. Selbstbewußtsein erwächst aus Selbstständigkeit, nicht aus Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge. Menschen brauchen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
- Andererseits kann die Betonung von Selbstverantwortung des Einzelnen dazu führen, dass Menschen, die damit überfordert sind, nicht rechtzeitig genug Unterstützung erhalten. Nicht alle haben die gleichen Chancen, um ihr Glück selbst zu schmieden. Und schließlich können wichtige Perspektiven des Gemeinwohls – das gemeinsamer Verantwortung bedarf wie Bildung und Erziehung – aus dem Blick geraten. Dann stellt eine Gesellschaft ihre eigene Zukunft zur Disposition.
Wie sieht es nun also heute in Deutschland aus?
Die Schulpflicht beginnt mit etwa sechs Jahren, bei einer Tendenz, das Eintrittsalter zu senken. Vom 3. Geburtstag bis zur Einschulung gibt das Bundesgesetz allen Kinder einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz; zumeist einen Halbtagsplatz. Jüngere und ältere sollen bei Bedarf einen Platz erhalten; ebenso sollen Ganztagsplätze bei einem entsprechenden Bedarf vorgehalten werden. Für die Klärung des Bedarfs gelten verschiedene Anspruchsberechtigungen, wie Berufstätigkeit oder Ausbildung. Noch immer aber fehlen in den westlichen Bundesländern Plätze und bis zu einer tatsächlichen bedarfsgerechten Versorgung ist es noch ein weiter Weg.
So schaffen sich viele Familien eigene Betreuungsarrangements, organisieren die Kinderbetreuung ihrer Kleinkinder oder der Schulkinder also privat. Aus Mangel an Angeboten oder aus pädagogischen Gründen betreiben Eltern auch Eltern-Kind-Kindergärten oder Kinderläden, die nicht in allen Bundesländern im Rahmen regulärer Finanzstrukturen gefördert werden; zuweilen erfolgt die Förderung nur freiwillig oder »nach Maßgabe des Haushalts«.
Wie in der Vergangenheit werden auch heute noch in Westdeutschland die meisten Plätze von Kirchen und Wohlfahrtsverbände angeboten. Sie sind im Kern gemeint, wenn von den »freien Trägern« die Rede ist. Die Kirchen und Verbände übernahmen die gesellschaftliche Verantwortung, die der Staat und die Kommunen erst kaum und dann nur zögerlich zu übernehmen bereit waren. Dafür wird ihnen die Wahrung ihrer Selbstständigkeit in der Ausgestaltung, der Vorrang vor öffentlichen Angeboten, eine partnerschaftliche Zusammenarbeit und finanzielle Förderung eingeräumt. Dagegen gab es in der DDR fast ausschließlich staatliche Einrichtungen, die nach gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsplänen ihre Arbeit gestalteten.
Seit der Vereinigung ist die Situation in beiden Teilen Deutschlands in Veränderung begriffen und die Entwicklungslinien bewegen sich hierbei aufeinander zu:
1. In den östlichen Bundesländern steigt der Anteil der Einrichtungen in freier Trägerschaft und auch das Eigenengagement von Eltern nimmt zu. Dies erfolgt z.T. freiwillig, mit dem Ziel der aktiven Gestaltung des Lebens der Kinder; z.T. zwangsläufig aufgrund des Rückzugs des Staates und der Kommunen aus der Fürsorge und Verantwortung.
2. In den westlichen Bundesländern ist ein langsamer aber deutlicher Ausbau der Plätze sichtbar. Der Staat und die Kommunen engagieren sich finanziell und auch fachlich stärker. Die freien Träger dagegen sind nicht länger bereit, die sehr erheblichen finanziellen Eigenleistungen weiter zu tragen. Sie fordern, dass die öffentliche Seite die gesetzlich bestimmten Ansprüche der Familien auch weitgehend finanziert. Allerdings geraten die freien Träger in die Nähe von Dienstleistern. Solche gewerblichen Anbieter gab es bisher in der Kindertagesbetreuung kaum.
Ausblick
Schreckliche Einzelfälle von Kindesvernachlässigungen und Missbrauch haben zu einer Debatte um den staatlichen Schutzauftrag für das Wohl der Kinder im Verhältnis zum Elternrecht zum geführt, also um die »richtige« Balance zwischen öffentlicher und privater Verantwortung.
Weitere Schubkraft erhält diese Diskussion durch das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei den PISA-Untersuchungen. Seitdem wird ein öffentlicher Einfluss auf die pädagogische Arbeit der Bildungseinrichtung gefordert.
Somit stellt sich auch hier die Frage nach dem Verhältnis von öffentlicher und privater Verantwortung. Mittlerweile haben alle sechzehn Länder ihren eigenen Bildungsplan. Spiegelt dies wünschenswerte Vielfalt oder eher Beliebigkeit? Verschiedenheit kann als innovatives Strukturmerkmal die Kindertagesbetreuung in Deutschland auszeichnen; sie kann zur Schwäche geraten, wenn ein verbindendes Interesse und das gemeinsame Ziel dahinter verblassen.
Detlef Diskowski
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