Wir neigen zu der Annahme, dass Kinder um so autonomer werden, je mehr körperliches Geschick und andere Fertigkeiten sie erwerben. Doch zugleich wollen wir uns auch von einem rein körperbezogenen Entwicklungsverständnis von Autonomie distanzieren. Unsere Chefredakteurin Marta Guzman hat es ja bereits im Editorial so wunderbar klar ausgedrückt: Wir von »KINDER in Europa« denken, dass Autonomie in enger Beziehung zur Freiheit jedes einzelnen und seiner Verantwortung steht.
Und Besonders die Freiheit zum Handeln und Denken, Ansichten zu äußern, sich auszudrücken und aktiv zu werden. Manchmal, so sagt unsere Autorin Beatriz Trueba, werden Kinder arg genötigt, manche Fertigkeiten so schnell wie nur möglich zu erlernen – wozu soll das gut sein? Soll die Kindheit mit allem was so dazu gehört so früh wie möglich vergessen und ersetzt werden? Soll das Kind so schnell wie möglich einem Erwachsenen gleich sein? Die Kindheit ist doch kein Durchlauferhitzer zur Zukunft, sondern ein Lebensabschnitt mit eigenem Wert und eigener Kultur. Kindheit wird durch Kinder und Erwachsenen gleichermaßen geprägt.
Unsere Definition von Autonomie erkennt an, dass Kinder vom frühesten Alter an Subjekte bzw. Akteure sind (Myrtha Chokler). Das schließt ein, dass Kinder in jedem Moment ihres Lebens sich mit ihrer Wahrnehmungs-, Bewegungs-, emotionalen und kognitiven Entwicklung befassen. Sie setzen zu jedem Zeitpunkt die bis dahin verfügbaren »Instrumente« ein. Sie trainieren nicht etwa das, was sie später anwenden müssen. Kinder können auch mitentscheiden. Barbara Roehrborn beschreibt, wie Kinder an konkreten Entscheidungen – dafür oder dagegen – mitwirken und auch, wie sie sich in Entscheidungsprozesse einbringen. Entscheidungen sind auch ein Aspekt, der bei Gerlinde Lill und Roger Prott eine Rolle spielt. Wie viel Entscheidungsfreiheit gewähren Erwachsene den Kindern? Wie viel Verantwortung kann ein Kind für sich selbst übernehmen oder tragen? Letztlich dreht sich alles um Macht über andere Menschen, oder nicht? Ist es nur die Sorge für die Kleinen, die die Erwachsenen umtreibt? Dabei sind Kinder doch aktiv Handelnde, »echte« Menschen mit eigenen Ansichten und Wünschen. Sie sind nicht vorrangig die Erwachsenen von morgen. Kinder sind bereits jetzt als Personen ganz da. Dazu mehr in Barbara Roehrborns Artikel.
Wenn Erwachsene genau hinschauen, nehmen sie wahr, wie fleißig Kinder sich selbst und ihr Umfeld erkunden und entdecken – auf eigene Initiative und völlig allein. Die kindliche Autonomie zu fördern ist in vielfacher Hinsicht mit der Umsetzung des Abkommens über die UN-Kinderrechte verbunden. Die Qualität frühkindlicher Bildung und die UN-Kinderrechte gehören zusammen, erklärt Ankie Vandekerckhove. Im Fokus wird das Thema UN-Kinderrechte durch Madalena Marçal Grilo nochmals aufgegriffen. Sie beschreibt, was sich in Portugal innerhalb von 25 Jahren geändert hat.
Auch Slavica Bašić lotet die Grenzen kindlicher Autonomie aus. Sie sieht das aktuelle Konzept eher im Dienst der So-zialisationsnormen, denn als Beitrag zur Individualität. Darum ruft sie zur Übernahme einer »neuen Autorität« durch die Erwachsenen auf. Sie meint damit Erwachsene, die im Leben der Kinder präsent sind, um Orientierung zu geben und Werte zu vermitteln. Marion Tielemann geht auf den gesellschaftlichen Wandel ein, der ihrer Ansicht nach die Ursache für die veränderten Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern ist. Mehr Demokratie und die Familien immer wichtiger – beides verunsichert die pädagogischen Fachkräfte. Sie berichtet von Erfahrungen hier in Deutschland, wo in so genannten Werkstattschulen Kinder autonom und selbstbestimmt lernen können. In diesem Rahmen kommt den Erzieherinnen und Erziehern eine neue Rolle zu. Sie agieren mehr als Mentoren des Lernens, als Entwicklungsbegleiter oder Lernpartner, denn als Vorgeber, Vormacher oder Vordenker. Gino Ferry berichtet ähnliches aus Italien, wenn er die veränderte Verantwortung der Erwachsenen hinsichtlich der selbstaktiven, kreativen Kinder zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Wie kann man die neue Rolle der Pädagogen, der Erwachsenen überhaupt, in seinen charakteristischen Merkmalen konkret beschreiben?
Julita Wojciechowska erklärt uns die Bedeutung von Selbstkontrolle und Selbstregulierung im Zusammenhang mit Gesundheit bei der Entwicklung von Essgewohnheiten. Sie betont, dass jeglicher Zwang kontraproduktiv ist, dass Erwachsene sehr genaue Kenntnisse über die kindliche Entwicklung haben müssen und dass die Erwachsenen trotzdem grundlegende Aufgaben und ihre Verantwortung haben.
Aus Griechenland berichtet Hara Kortessi-Dafermous von einem Programm zur Förderung von griechisch als Zweitsprache für die muslimische, türkisch-stämmige Bevölkerungsminderheit in Thrakien. Das Programm bezieht den sozialen und kulturellen Hintergrund der Kinder ebenso ein wie ihre aktive Beteiligung.
Ein ganzes Team von Erzieherinnen in Balmaseda und Alexander Barandiaran, ein Forscher und Fortbildner, erzählen uns die Geschichte einer Veränderung des Alltags in der Ikastola Zubi Zaharra, einer Vorschuleinrichtung im nordspanischen Baskenland. Sie setzten das geltende Curriculum außer Kraft und ersetzten es durch ihr eigenes, das auf die an-geborene Fähigkeit der Kinder zu selbstbestimmten Lernprozessen und autonome Entscheidungen setzt.
Pilar González Rof führt uns noch in die Welt der Espais Familiars, den Räumen für Familien bzw. den Räumen der Familien, der Begriff ist doppelsinnig. Als Institutionen kommen bei uns die Familienzentren des Espais Familiars nahe, doch natürlich kommt es darauf an, welches Modell aus welchem Bundesland man dabei vor Augen sieht. In der Provinz Biscaya jedenfalls werden Familien un-terstützt, ohne dass sie in ihrem Verhalten oder so wie sie sind be- oder gar verurteilt werden.
Wir schließen diese Übersicht mit Agnès Szántó, deren Worte wir nutzen, um unsere Vorstellung von Autonomie zu erklären: Autonomes Handeln ist nicht bloß eine Methode; es setzt sich nicht aus Momenten zusammen, die dem Kind mehr oder weniger gewährt werden. Autonomie ist ein Lebensart.
Helena Burić,
Areta Wasilewska-Gregorowicz